Berlinale 2005 - Nachlese
Keine Lieder über Liebe (Foto: Berlinale)
Spätestens nach dieser Berlinale mit einem sehr durchwachsenen Wettbewerbsprogramm und dem nicht immer geglückten Balanceakt zwischen Glamour, Kunst und Politik steht fest, dass wohl auch Festivalleiter Dieter Kosslick nur mit Wasser kocht. Was Kosslick dennoch von seinem Vorgänger Moritz de Hadeln unterscheidet, sind die neu eingeführten Programmschienen vor allem der Perspektive Deutsches Kino und der Jugendfilmreihe "14plus" (siehe Kinofenster 2-05) sowie sein besonderes Engagement für den deutschen Film. Gleich drei ansehnliche und in ihrer persönlichen Handschrift sehr unterschiedliche deutsche Beiträge im Wettbewerb (
Sophie Scholl - Die letzten Tage von Marc Rothemund,
One Day in Europe von Hannes Stöhr und
Gespenster von Christian Petzold) sowie weitere Entdeckungen in den anderen Sektionen machen deutsche Filmproduktionen eindeutig zum Gewinner dieses Festivaljahrgangs. Die überwiegende Mehrzahl dieser empfehlenswerten Filme hatte freilich bereits zur Berlinale einen festen Starttermin im Kino, wie
Willenbrock von Andreas Dresen,
Netto von Robert Thalheim oder
Katze im Sack von Florian Schwarz. Eine Ausnahme bildet der deutsche Panorama-Beitrag
Keine Lieder über Liebe von Lars Kraume, die Geschichte einer fast dokumentarisch inszenierten Dreiecksbeziehung zwischen zwei ungleichen Brüdern, die in dieselbe Frau verliebt sind, der eine ein Musiker, der andere ein Filmemacher. Über die Irrungen und Wirrungen der Liebe hinaus entwirft Kraume virtuos ein emotional mitreißendes Familiendrama, in dem Florian Lukas, Jürgen Vogel und Heike Makatsch in ihren vielleicht bisher besten Rollen zu sehen sind. Er nutzt die inzwischen allzu oft nur manieristisch eingesetzte Handkamera dramaturgisch sinnvoll, wechselt geschickt zwischen den verschiedenen Erzählebenen, beispielsweise zwischen den Statements der Figuren in die Kamera und in die Handlung integrierten Musikeinlagen on stage.
Va, vis et deviens (Foto: Berlinale)
Afrika und der Rest der Welt
Das Thema Afrika in seinen verschiedenen Facetten bildete einen Schwerpunkt des Festivals. Das drückte sich bereits im sehr plakativ und pädagogisch geratenen Eröffnungsfilm
Man to Man von Régis Wargnier aus, der von der Überheblichkeit und vermeintlichen Überlegenheit der weißen Europäer gegenüber der schwarzafrikanischen Bevölkerung handelt. Gleich zwei Beiträge setzten sich mit dem Bürgerkrieg in Ruanda Mitte der 1990er-Jahre auseinander, der binnen 100 Tagen zum Massenmord an etwa einer Million Menschen, vor allem Tutsi, geführt hat und vor dem Hintergrund fehlgeleiteter europäischer Kolonialpolitik gesehen werden muss.
Hotel Ruanda von Terry George (siehe Kinofenster 4-05) erzählt nach einem authentischen Schicksal die Geschichte eines schwarzen Hotelmanagers, der durch beherztes Eingreifen, Findigkeit und Zivilcourage nicht nur seine Familie, sondern auch weit über 1000 Personen im Hotel Mille Collines vor dem sicheren Tod retten konnte.
Sometimes in April von Raoul Peck vermittelt gewissermaßen die Außensicht derselben Ereignisse, konzentriert sich aber mehr auf die unterschiedlichen Positionen zweier Hutu-Brüder während des Völkermords an den Tutsi. Der Film zeigt in detailreichen, drastischen Bildern das Abschlachten der Bevölkerung durch aufgehetzte Zivilisten und marodierende Soldaten. So betroffen, wütend und hilflos dieser Film zunächst auch macht, geht er am Ende nur ansatzweise über die detaillierte Chronologie des Massenmords hinaus. – Das eindringlichste Plädoyer für Toleranz und Menschlichkeit sowie gegen Vorurteile und überkommene Stereotype lieferte der Panorama-Eröffnungsfilm
Va, vis et deviens von Radu Mihaileanu, der dafür neben dem Panorama-Publikumspreis noch zwei weitere Jury-Preise erhielt. Als es Mitte der 1980er-Jahre zu einer schweren Hungerkatastrophe in Äthiopien kam, ermöglichte Israel in Kooperation mit den USA mehreren Tausend schwarzen äthiopischen Juden die Ausreise nach Israel. Um ihren Sohn vor dem Hungertod zu bewahren, gibt eine katholische Mutter ihr Kind als Juden aus. Dieser gelangt tatsächlich ins Heilige Land und wird dort von einer gläubigen Familie als vermeintliches Waisenkind jüdischer Vorfahren adoptiert und großgezogen. Ständig in Angst, dass die Wahrheit ans Licht kommen könnte, erlebt der Junge die rassistischen Vorurteile der weißen Israelis gegenüber den dunkelhäutigen Juden am eigenen Leib. Aber er wird auch zum überzeugten Juden, ohne seine wahre Herkunft zu verleugnen. Als offizieller Wettbewerbsbeitrag hätte dieser Film wohl ernsthafte Chancen auf einen Goldenen Bären gehabt.
Paradise Now (Foto: Berlinale)
Terrorismus ganz international
Der moderne Terrorismus schafft überwiegend unschuldige Opfer. Was dabei in den Tätern vor sich geht, die für ihre genau geplanten Aktionen ihr Leben geben, bleibt meist im Dunkeln. Der in Nazareth geborene Regisseur Hany Abu-Assad nähert sich dem brisanten Thema in
Paradise Now anhand der Geschichte zweier Freunde, die von ihrer palästinensischen Terrorzelle dazu bestimmt worden sind, sich in Tel Aviv in die Luft zu sprengen. Ohne ihre Aktion verraten zu dürfen, nehmen sie in der letzten Nacht ihres Lebens von Verwandten und Freunden Abschied, während sie zwischen ihren Überzeugungen und ihrem Gewissen hin- und hergerissen sind. Der Film nimmt argumentativ eindeutig Stellung gegen Selbstmordattentate, zeigt aber auch die Mechanismen solcher Aktionen, die unter großem äußeren wie inneren Druck ausgeführt werden. Er macht deutlich, dass dahinter keineswegs nur gewissenlose und ferngesteuerte Marionetten, sondern oftmals verzweifelte Menschen stehen, die politisch etwas bewirken wollen und keine anderen Alternativen sehen, als mit Sprengstoff um den Körper in einen Bus zu steigen. – Für Griechenland hat sich das Problem des Terrorismus vor wenigen Jahren in einer ganz anderen Weise gestellt: Nach einer authentischen Begebenheit aus dem Jahr 1999 erzählt Constantinos Giannaris in
Omiros/Geiseln die Geiselnahme eines Linienbusses durch einen jungen Albaner, der mit dieser öffentlichkeitswirksamen Aktion seine Würde zurückerhalten möchte. Sie wurde ihm als unschuldig durch die griechische Polizei Gefoltertem zuvor genommen. Doch das erfahren die Geiseln und die Zuschauenden erst langsam im Laufe der Jagd bis an die albanische Grenze, die unter großem Medienaufgebot stattfindet. Während der von Sehnsucht nach seiner Heimat angetriebene Albaner Nachsicht gegenüber seinen Geiseln übt und bald von einigen offen unterstützt wird, kennt die herausgeforderte Staatsmacht am Ende kein Erbarmen. – Hier wie dort scheint es einfacher, die echten und vermeintlichen Terroristen zu bekämpfen als sich mit den Ursachen, die diesen Terrorismus mitbegründen, auseinanderzusetzen. Im ganz großen Stil und von der Weltöffentlichkeit nur beiläufig wie seinerzeit der Bürgerkrieg in Ruanda zur Kenntnis genommen, ist das offenbar in Tschetschenien geschehen. Davon berichtet Eric Bergkraut in seinem im Forum präsentierten Dokumentarfilm
Coca - Die Taube aus Tschetschenien. Coca, so heißt eine mutige Frau, die seit 1994 Videodokumente über die dramatischen Ereignisse in ihrem Land zusammenträgt. Im Namen der Terrorismusbekämpfung haben diese Züge eines Völkermords angenommen, bei dem bisher fast 30 Prozent der Bevölkerung getötet wurden. Das Material soll später eine Anklage vor dem Europäischen Gerichtshof unterstützen.
Le promenuer du Champ de Mars (Foto: Berlinale)
Nationalsozialismus
Zwei kurzfristig ins Berlinale-Programm aufgenommene Filme spielen wie
Sophie Scholl - Die letzten Tage von Marc Rothemund
zur Zeit des Nationalsozialismus.
Fateless von Lajos Koltai, der für den wieder ausgeladenen Film
Heights in den Wettbewerb nachrückte, ist die Verfilmung des berühmten Holocaust-Romans "Roman eines Schicksallosen" von Imre Kertész und erzählt den Leidensweg eines 15-Jährigen durch die Todeslager von Auschwitz und Buchenwald bis zu seiner unverhofften Rettung und Rückkehr nach Budapest. Die Verfilmung weckte hohe Erwartungen, zumal Kertész auch das Drehbuch zum Film lieferte. Die ungarisch-deutsch-britische Koproduktion zieht technisch und dramaturgisch zwar alle Register, ringt dem unverändert wichtigen Thema aber kaum neue oder überraschende Aspekte ab und vermag nur an wenigen Stellen unmittelbar zu berühren. Die Vernichtungsmaschinerie wird hier nicht nur subjektiv aus der Sicht eines Jungen erzählt – das machten andere Filmemacher schon besser – sondern überwiegend in farbigen Hochglanzbildern des Schreckens zur Schau gestellt. Alles ist eine Spur zu perfekt inszeniert, bis ins Detail ausgeleuchtet, so dass Auschwitz wie ein modernes Filmstudio wirkt. Erst wenn der Junge nach Budapest zurückkehrt und den ehemaligen Nachbarn wiederbegegnet, gewinnt der Film an Tiefe, nur ist er da schon fast zu Ende. –
Edelweißpiraten von Niko von Glasow wurde der "Perspektive" als Gastfilm hinzugefügt und relativiert ein wenig den durch Rothemunds Film verstärkten Eindruck, es habe unter deutschen Jugendlichen mitten im Krieg kaum Widerstand gegen Hitler gegeben. Der Vergleich mit beiden Filmen zeigt andererseits, wie sehr die Jugendlichen von positiven Vorbildern aus der eigenen Familie zum Widerstand ermutigt wurden. Als Köln bereits eine Trümmerwüste ist, verweigern sich einige Jugendliche, die sich unter dem Namen Edelweißpiraten organisiert haben, den Nazis hartnäckig, planen mit Hilfe eines verletzten KZ-Flüchtlings ein Attentat auf die Gestapo, werden aber nach brutalen Verhören der Geheimpolizei entdeckt und zum Tode verurteilt. Gedreht nach den Erinnerungen eines Überlebenden, dessen Stimme im Film auch zu hören ist, verspielt die Produktion leider etwas von ihrer Glaubwürdigkeit, indem sie die Fakten freizügig mit fiktionalen Elementen vermischt. Gezeigt wird auch die große Naivität dieser Jugendlichen, was aber weniger zum Vorbild als zum ehrenden Gedenken taugt.
Crustacés et Coquillages (Foto: Berlinale)
Politiker
An Geschichtsschreibung über die Darstellung herausragender Persönlichkeiten der Weltpolitik versuchten sich gleich zwei Wettbewerbsbeiträge.
Le promeneur du Champ de Mars/Der späte Mitterrand von Robert Guédiguian zeichnet kammerspielartig die letzten Monate des bereits schwer kranken französischen Präsidenten François Mitterand nach, der politisches Rückrat, Ideale und Lebensklugheit in sich vereinte. In der fiktiven Begegnung Mitterands mit einem jungen Journalisten entwirft Guédiguian das beeindruckende Porträt eines Politikers der alten Schule, dem es mehr um die Umsetzung seiner Ideen des Sozialismus als um Machterhalt um jeden Preis ging und dem auch seine vielen Feinde nichts anhaben konnten. Selten war ein filmischer Essay über Politik und Moral so spannend wie in diesem Werk, das konventionelle Erzähldramaturgien sprengt und auch dank Michel Bouqet in der Titelrolle zum Erlebnis wird. Er hätte für seine Leistung eigentlich den Preis als bester Darsteller verdient und nicht der nette Junge aus
Thumbsucker. –
Solnze/Die Sonne von Alexander Sokurow ließ die Herzen vieler Cineasten/innen höher schlagen. Der Film über den gottgleichen japanischen Kaiser Hirohito, der am 15. August 1945 sein Volk sehr irdisch aufforderte, alle Kampfhandlungen einzustellen, ist hochgradig artifiziell, weist die unverwechselbare Handschrift des Regisseurs auf und ermöglicht in der radikalen Reduktion von Form und Handlung durchaus Erkenntnisprozesse im bedeutungsvollen Halbdunkel der dargestellten Ereignisse. Was man mit einiger Berechtigung auch als Versicherungsfall für das Kopierwerk bezeichnen könnte, dürfte in Kinos ohne ausreichende Lichtleistung der Projektoren zum bloßen Hörfilm werden. Und auf das Publikum darf ein echter Künstler sowieso keine Rücksicht nehmen – oder war das einfach nur der falsche Film?
Familie, Erziehung und Sexualität
Von den einsamen Höhen der Macht zurück in die Keimzellen des Staates, mitten ins familiäre Glück und Desaster. Mal aus ironisch unterhaltsamer Distanz eines amerikanischen Independent-Films, mal mit der enigmatischen Strenge eines französischen Autorenfilmers verwiesen zwei Wettbewerbsbeiträge auf die familientherapeutisch nutzbare Tatsache, dass Fehler, Schwächen und unerfüllte Wünsche der Elterngeneration oft erst bei den Kindern richtig "durchschlagen" und bei ihnen zu Verhaltensauffälligkeiten führen. In
Thumbsucker/Daumenlutscher von Mike Millis verbaut sich ein Jugendlicher beinahe seine Schulkarriere, weil der Vater über seine verpassten Chancen als Sportler nie hinwegkam. Dank fleißiger Einnahme von Psychopharmaka entwickelt er sich zum Monster, womit der Film zum Glück noch nicht zu Ende ist. Über gängige Erziehungsmethoden und propagierte Werte bis hin zu esoterischen Orientierungsversuchen nimmt er humorvoll so ziemlich alles aufs Korn, was im amerikanischen Bildungssystem heute angesagt ist. Weitaus unspektakulärer erzählt Alain Corneau in
Les Mots Bleus/Worte in Blau die Geschichte einer jungen Frau, die durch den unverarbeiteten Tod ihrer geliebten Großmutter als Kind traumatisiert wurde. Ihre Ehe ging in die Brüche, die Tochter weigert sich zu sprechen. Erst durch einen selbst vom Leben schwer gezeichneten Lehrer in einer Schule für Gehörlose finden beide zurück ins Leben. Der stille, poetische Film ist zwar in sich stimmig, versagt sich aber weitgehend gängigen Erzählmustern. – Kompromisslos in Form und Inhalt ist auch der dänische Beitrag
Anklaget/Angeklagt von Jacob Thuesen zum Thema sexueller Missbrauch. Nur einmal gegen Ende des Films erscheint das mögliche Opfer, die Tochter des Angeklagten, selbst im Bild. Ob der Vater sein Kind wirklich missbraucht hat, bleibt lange im Dunkeln. Auf diese Weise gelingt es dem Film, für das Thema über die reine Betroffenheit mit dem Opfer hinaus zu sensibilisieren, macht deutlich, wie die Gesellschaft pauschale Vorverurteilungen vornimmt, wie schwer es oftmals ist, die Wahrheit herauszufinden. Da hält einesteils die Mutter und Ehefrau uneingeschränkt zu ihrem Mann, während die Gesellschaft einen Verdächtigen ohne klare Beweise gnadenlos ausgrenzt, andernteils bezieht der Film unmissverständlich Position, dass es für echte Fälle keine Entschuldigung gibt. – Als Kontrast zu vielen der überwiegend kopflastigen und problemorientierten Filme des Festivals sei
Crustacés et Coquillages von Olivier Ducastel und Jacques Martineau aus dem Panorama-Programm empfohlen. Er verbindet gute Unterhaltung mit Anspruch, war einer der wenigen Filme des Festivals, bei denen es etwas zu lachen gab und die spielerisch beschwingt mit den Problemen des Alltags umgingen. Dabei haben auch in dieser Familie im sommerlichen Urlaubsidyll am Meer zunächst alle ein Geheimnis. Erst nachdem es gelüftet ist, haben sie die Chance, frei und offen zu leben.
Autor/in: Holger Twele, 21.09.2006