Kinder im (Bürger-)Krieg
Dreharbeiten zu "Schildkröten können fliegen"
60 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs gibt es auf der Welt immer noch etwa drei Dutzend "kleinere" Kriege. Große Vernichtungsfeldzüge und so genannte Verteidigungs- und Präventivkriege gegen andere Länder und Völker sind seltener geworden. Meistens tobt ein Krieg heute im eigenen Land, heterogene Ethnien liefern sich kriegerische Auseinandersetzungen um Macht und Vormachtstellung oder ein Bürgerkrieg teilt das Land in zwei unversöhnliche Lager. Unabhängig von seiner Beschaffenheit fordert ein "moderner" Krieg die meisten Opfer längst nicht mehr unter den Soldaten/innen, sondern unter der Zivilbevölkerung, insbesondere bei Frauen und Kindern. Allein die ständige Bedrohung, unter Beschuss oder zwischen die Fronten zu geraten, und unmittelbare Gewalterfahrungen wie Vergewaltigung, Mord und Totschlag bedeuten für die "junge" Seele der Kinder ein besonderes Trauma, unter dem sie manchmal ein Leben lang zu leiden haben. Neben dem Verlust ihrer Kindheit und der Zerstörung ihres Zuhauses ist es für sie eine besondere Tragödie, wenn sie geliebte Menschen verlieren, zu Waisen oder Halbwaisen werden, am Ende auf der Straße für sich selbst sorgen müssen. Darüber hinaus werden sie in zahlreichen Ländern oft als Kindersoldaten missbraucht und lernen, andere zu quälen und zu töten. Selbst wenn der Krieg bereits zu Ende ist, werden sie allein aufgrund ihrer Neugier und ihres Spieltriebs noch besonders häufig zu Opfern durch Abermillionen von Landminen und andere gefährliche Hinterlassenschaften eines Krieges.
Szene aus dem Film "Schildkröten können fliegen"
Kriegserlebnisse aus der Perspektive von Kindern
Wie gehen Kinder und Jugendliche mit solchen Extremerfahrungen um, wie kommen sie in ihrem Alltag damit zurecht? Und warum sollte man solche Themen über das Medium Film auch einer entsprechenden Altersgruppe vermitteln, die das Glück hatte, keinen Krieg unmittelbar erlebt zu haben? Verändert sich mit der Perspektive der Kinder auch die Perspektive der Erwachsenen, gerade wenn es in den Filmen um etwas anderes als um tapfere Soldaten/innen, wichtige Missionen, Sieg oder Niederlage geht? Diese Kinofenster-Themenausgabe stellt drei neue Filme mit Kinostart 2005 vor, die aus der Perspektive von Kindern und Jugendlichen erzählen, wie diese einen Krieg erleben – einmal unmittelbar vor, dann während und nach einem Krieg – und wie sich diese Erfahrung auf ihren Alltag auswirkt. In allen drei Fällen handelt es sich originär um Bürgerkriege – das gilt auch für den Irak und die Kurdenproblematik – außerhalb von Europa. So unterschiedlich die auslösenden Faktoren für diese drei Kriege in den verschiedenen Kontinenten gewesen sein mögen, verbindet sie doch die Gemeinsamkeit, dass die USA als mittlerweile einzig verbliebene Weltmacht in irgendeiner Form beteiligt waren oder später darin eingegriffen haben. Aber auch Europa ist an solchen Kriegen selten ganz unbeteiligt, werden doch in vielen europäischen Ländern auch Landminen produziert und exportiert, die selbst noch viele Jahrzehnte nach Beendigung eines Konflikts hohen Blutzoll fordern.
Die Filme der Themenausgabe
Die iranisch-irakische Produktion
Schildkröten können fliegen von Bahman Ghobadi zeigt ein kurdisches Flüchtlingslager im Grenzgebiet der beiden Staaten unmittelbar vor dem Sturz des Hussein-Regimes durch amerikanische Truppen. Mit bloßen Händen räumen die Kinder unter ihrem 13-jährigen Anführer "Satellit" ganze Minenfelder, um mit dem Verkauf der Minen ihren Lebensunterhalt zu verdienen. In ihrem Alltag müssen sie mit ihren körperlichen und vor allem seelischen Wunden zurechtkommen, die der jahrelange Krieg gegen die Kurden hinterlassen hat. Aber das kurdische Mädchen Agrin, in das sich der Junge Satellit verliebt, wird ihre Horrorbilder der Vergangenheit nicht mehr los und sieht bald nur noch einen einzigen Ausweg. Der mexikanische Film
Innocent Voices von Luis Mandoki blendet zurück in den Bürgerkrieg in El Salvador zu Beginn der 1980er-Jahre. Der elfjährige Chava gerät mit seiner Mutter und seinen Geschwistern unmittelbar zwischen die Fronten der vom US-Militär unterstützten Regierungstruppen und der um soziale Gerechtigkeit kämpfenden Revolutionäre/innen, die breite Unterstützung bei der Mehrheit der Bevölkerung genießen. Mehr als vor dem Tod hat Chava jedoch Angst vor seinem zwölften Geburtstag. Denn dann könnte das Militär wie schon viele seiner Freunde auch ihn holen und als Kindersoldat verpflichten. Noch ein Jahrzehnt weiter zurück geht Andrés Wood in
Machuca, mein Freund. Santiago de Chile steht 1973 kurz vor dem Militärputsch gegen den sozialistischen Präsidenten Salvador Allende. In einer elitären Privatschule für Jungen aus reichem Elternhaus unter der Leitung eines sozial engagierten Paters werden kostenlos Schüler aus sozial schwach gestellten Familien eines Slums aufgenommen, darunter auch Pedro Machuca, der in die Klasse von Gonzalo Infante gesteckt wird. Trotz ihrer unterschiedlichen Herkunft werden die beiden Elfjährigen schnell Freunde. Allen Anfeindungen zum Trotz übersteht ihre Freundschaft die sozialen Spannungen bis zum Militärputsch vom 11. September 1973.
Autor/in: Holger Twele, 01.05.2005