39. Internationale Hofer Filmtage 2005
Shooting Dogs
Be with me
Bei den 39. Hofer Filmtagen ragte die deutsch-britische Produktion
Shooting Dogs des schottischen Regisseurs Michael Caton-Jones fast wie ein erratischer Block aus dem von Heinz Badewitz insgesamt sehr gelungen zusammengestellten Programm heraus. Während es in der überwiegenden Mehrzahl aller internationalen Filme und den neuen Werken des deutschen Filmnachwuchses um private Dramen und Figuren ging, die sich mit persönlichen Konflikten und Familiengeheimnissen, Krankheit und Behinderung sowie sozialen Problemen wie den Folgen von Arbeitslosigkeit beschäftigten, erzählt Caton-Jones eine Geschichte über den Genozid in Ruanda 1994. Anders freilich als sein irischer Kollege Terry George in
Hotel Ruanda stellt er nicht den Mut eines Schwarzen heraus, der viele seiner Landsleute vor dem sicheren Tod bewahren konnte, anders als der haitianische Filmemacher Raoul Peck in
Sometimes in April versucht er auch nicht, das grausame Gemetzel und die Reaktionen des Westens möglichst authentisch zu rekonstruieren. In
Shooting Dogs stehen beispielhaft die unterschiedlichen Reaktionen von Weißen im Mittelpunkt, die den Genozid hautnah an einer christlich geführten Schule in Ruanda miterleben und dabei ihre Integrität und ihr Leben trotz der fehlenden Hilfe von Seiten ihrer Heimatländer und ihrer jeweiligen Organisationen zu bewahren suchen. Der Leiter der Schule, ein umsichtiger älterer Pater, wird sein selbstloses Verhalten mit dem Leben bezahlen, der Offizier einer belgischen Friedenstruppe folgt zähneknirschend den Befehlen seiner Vorgesetzten und ein engagierter junger Lehrer aus Großbritannien möchte zwar helfen, wo er nur kann, rettet im entscheidenden Moment aber nur sein eigenes Leben. Seinen sarkastisch gemeinten Titel bezieht der Film aus dem Umstand, dass der UN-Offizier zwar seine Waffen gegen leichenfleddernde Hunde vor den Toren der Schule einsetzen möchte, die von einer blutrünstigen Meute umstellt ist, nicht aber gegen den aufgewiegelten Straßenmob, der die Menschen abschlachtet.
Kometen
Liebe und Hoffnung
Wie leicht es auch ohne Hass und Hetze zu einschneidenden Konflikten zwischen unterschiedlichen Traditionen und Lebensvorstellungen kommen kann, erzählt die junge kanadische Filmemacherin Ruba Nadda in ihrem Film
Sabah . In thematischer Anlehnung an
Monsoon Wedding geht es um eine Liebesbeziehung zwischen einer unverheirateten, einst aus Syrien zugewanderten Muslimin aus Toronto, die ihr privates Glück der Herkunftsfamilie opferte, und einem nichtmuslimischen weißen Kanadier, der zum ersten Mal mit den Gepflogenheiten der fremden Kultur konfrontiert wird. Die von Humor und Toleranz getragene, unterhaltsame Produktion plädiert weniger für ein gegenseitiges Verständnis der religiösen und kulturellen Eigenarten als für die Befreiung der Frau aus einengenden patriarchischen Strukturen. Sie richtet sich daher vor allem an ein weibliches Publikum und möchte Mut machen, selbst wenn die anfänglich unüberbrückbar scheinenden Konflikte, unter denen in erster Linie die muslimische Großfamilie selbst leidet, sich am Ende allzu schnell in Wohlgefallen auflösen. – Der aus Singapur stammende Film
Be with me von Eric Khoo verwebt geschickt drei fiktive Kurzgeschichten über das Thema unerfüllte Liebe und Hoffnung mit dem dokumentarischen Porträt von Theresa Chan, einer lebensfrohen gehörlosen und blinden Frau, die ihr Schicksal trotz aller Handicaps akzeptiert und ihr Leben in den Griff bekommen hat. Nahtlos gehen Realität und Fiktion ineinander über, werden unmittelbar aufeinander bezogen und eröffnen faszinierende neue Perspektiven auf das, was Leben heißt.
Unter dem Eis
Außenwelten und Innensichten
Etwas von diesem geradezu "kosmischen" Lebensmut wollen offenbar zurzeit auch junge deutsche Filmemacher/innen vermitteln. Wie sich die Bahnen der Himmelskörper durch ihre gegenseitige Anziehungskraft definieren, beeinflussen sich in Till Endemanns auf TV-Format zugeschnittenem Episodenfilm Kometen auch die Lebenswege von neun Personen in Mannheim: einem älteren Langzeitarbeitslosen, einem jungen Paar mit bevorstehendem Familiennachwuchs, das mit der neuen Verantwortung noch nicht richtig umgehen kann, zwei Unternehmensberatern, die sich beruflich durch die möglichst effiziente Wegrationalisierung von Arbeitsplätzen definieren, einem allein erziehenden Vater aus der betroffenen Firma und seiner sich einsam fühlenden Tochter, sowie einem unter Altersdemenz leidenden Senior, der sich täglich neu in dieselbe Frau verliebt. Zugleich gibt der Film sämtliche Themen aus dem Alltag vor, mit denen sich deutschsprachige Filmemacher/innen zurzeit besonders intensiv beschäftigen – insofern die Auswahl in Hof ein Gradmesser dafür ist. – In Stages von Marke Beles möchte eine an Brustkrebs operierte junge Frau gegen den Widerstand ihrer um sie besorgten Familie und ihres Freundes ihren Lebenstraum verwirklichen und trotz fehlender Ausbildung eine tragende Rolle auf der Bühne eines großen Stadttheaters übernehmen. Objektiv scheitert sie mit diesem Plan und bringt dabei den Regisseur des Stücks in arge Bedrängnis, aber aus ihrer Perspektive konnte sie nicht anders handeln, um innerlich stabil zu bleiben. – Maurus von Scheidt erzählt in Wie Licht schmeckt inhaltlich und ästhetisch unkonventionell eine klassische Coming-of-Age-Geschichte anhand der Erlebnisse eines 14-Jährigen vom Lande, der in der Großstadt München ein etwas älteres, blindes Mädchen kennen, lieben und in ihrer Wahrnehmungswelt verstehen lernt. Der schroff und ungehobelt wirkende Junge reißt an seinem Geburtstag von zu Hause aus, um in der Stadt drei Tage und Nächte unabhängig zu sein, und kehrt mit Zuversicht und einer neuen Lebensperspektive zurück. Beide Filme leben vor allem durch ihre Hauptdarsteller/innen, die leichte dramaturgische Unebenheiten überspielen und die Gefühlswelt ihrer Figuren glaubhaft vermitteln.
Schwitzkasten
Das Leben und der Tod
Aelrun Goette, deren Dokumentarfilm
Die Kinder sind tot im Jahr 2003 bereits in Hof lief, erzählt in ihrem nicht minder betroffen machenden Spielfilmdebüt
Unter dem Eis von einer Mutter, die ihren kleinen (des Totschlage bezichtigten) Jungen (vor der Anschuldigung eines Totschlags) schützen möchte und ihn damit selbst in große Gefahr bringt. Aus Versehen sah der Junge bei seinem bei der Kripo arbeitenden Vater die Fotos eines ermordeten Mädchens und fühlte sich inspiriert, das Gesehene mit seiner Spielkameradin aus der Nachbarschaft detailgetreu nachzustellen. Von der Mutter zum Schweigen über den wahren Sachverhalt verdonnert, wird der verstörte Junge in der Schule gewalttätig, was bald um sein eigenes Leben fürchten lässt. Authentisch bis hart am Rande des Zumutbaren inszeniert, ist der unerwartete Schluss der einzige Schwachpunkt dieses packenden Psychodramas, das zwar noch keinen Verleih gefunden hat, gleichwohl einer der eindrucksvollsten Filme des Festivals war. – Für den jungen schwulen Modefotografen in François Ozons neuem Film
Le temps qui reste/Die Zeit, die bleibt gibt es ebenfalls keine echte Zukunft mehr. Nach einem Schwächeanfall erfährt er vom Arzt, dass er wegen eines inoperablen bösartigen Tumors nur noch wenige Monate zu leben hat. Er verabschiedet sich von seiner Großmutter, klärt einige Konflikte in seiner Herkunftsfamilie, löst die Beziehung zu seinem Lebensgefährten und erfüllt den Wunsch eines Paares, das wegen der Unfruchtbarkeit des Mannes bisher kinderlos geblieben ist. Das ist schnörkellos und dicht inszeniert, vermittelt aber weniger die ambivalente Gefühlswelt eines bewusst Sterbenden als den latenten Wunsch auch von Homosexuellen nach eigenen Kindern beziehungsweise nach etwas, das den eigenen Tod überdauern möge.
Die Axt
Das Leben und die Arbeit
Die desolate Arbeitsmarktsituation in Europa aus der Sicht von Betroffenen bildete einen zweiten Themenschwerpunkt des Festivals, der schon beim Eröffnungsfilm
Urlaub vom Leben von Neele Leana Vollmar anklang. Konnte hier der Protagonist noch aus der nutzlosen Unbestimmtheit seines Lebenstrotts und der schleichenden Entfremdung ausbrechen, indem er nach einem unfreiwillig angetretenen Kurzurlaub auf den Geschmack kommt und seinen Job kündigt, haben andere Protagonisten/innen ihre Arbeitsstelle ohne eigene Absicht verloren. Eoin Moore nähert sich dem von latenten Ängsten und Abwehrhaltungen besetzten Thema mit viel Humor und pointierten Dialogen und erzählt in
Im Schwitzkasten von einer Gruppe ganz unterschiedlicher Leute in Ostdeutschland, die sich regelmäßig in einer Sauna treffen und hoffen, mit der schweißtreibenden Prozedur auch ihre Sorgen und Nöte loszuwerden. Der Betrieb steht unmittelbar vor dem Bankrott, aus gutverdienenden Gästen werden dankbare Mitarbeiter der Sauna, eine Sozialhilfeempfängerin hofft, als Entwicklungshelferin im afrikanischen Ruanda ihre Arbeitslosigkeit zu beenden und der Ehemann einer Politikerin träumt von Ich-AGs, mehr Eigenverantwortung der Arbeitslosen und einem abwegigen Investitionsprojekt. Moores auf den Punkt gebrachte sozialkritische Komödie propagiert Umorientierung, Solidarität und privates Glück als probate Hilfsmittel gegen die Misere. Andreas Dresen konzentriert sich dagegen in vergleichsweise leisen Tönen in
Sommer vorm Balkon mehr auf die Freundschaft zweier im gleichen Haus wohnender Frauen, die sogar Arbeitslosigkeit, Eifersucht und psychische Aus- und Zusammenbrüche nicht trennen können. Weitaus radikaler näherte sich Constantin Costa-Gavras, der Altmeister des Politthrillers, dem die diesjährige Werkschau gewidmet war, dem in Frankreich nicht minder brisanten Thema in seinem neuesten Werk
Le couperet/Die Axt , das nach einer Romanvorlage entstand. Eine durch "Restrukturierungsmaßnahmen" arbeitslos gewordene Fachkraft hofft auf Wiedereinstellung, indem der 41-Jährige durch eine fingierte Stellenausschreibung potenzielle Konkurrenten in Erfahrung bringt und einen nach dem anderen ermordet. Costa-Gavras Film hat sich leider etwas zu ausführlich in die einzelnen Mordfälle verstrickt, seine fatal wirkende Aussage jedoch, dass nach den "üblichen" Familientragödien des Selbstmords in Zukunft verstärkt auch gewalttätige Gegenreaktionen der Betroffenen bis hin zum Mord zu erwarten sind, um das eigene Überleben zu sichern, könnte sich in tragische Realität verwandeln.
Fotos: Internationale Hofer Filmtage
Autor/in: Holger Twele, 21.09.2006