Hintergrund
Tibet heute: Historische und aktuelle Ursachen eines Konflikts
Im Vorfeld der Olympischen Spiele ist der sino-tibetische Konflikt erneut in den Blickpunkt der westlichen Öffentlichkeit gerückt. Auch wenn die chinesische Regierung einmal mehr den Dalai Lama für die neuerlichen Unruhen verantwortlich macht, deutet doch vieles darauf hin, dass das Tibetproblem sehr viel komplexer ist, als die chinesische Regierung wahrhaben will. Neben den historischen Ursachen des Konflikts, die mehrere Jahrhunderte zurückreichen, führen vor allem die aktuellen Lebensbedingungen in der autonomen Region Tibet und den angrenzenden chinesischen Provinzen dazu, dass die Tibeter immer wieder gegen die chinesische Herrschaft aufbegehren.
Historische Argumentationen
Um den aktuellen Konflikt zu verstehen, ist es hilfreich, sich noch einmal zu vergegenwärtigen, wie beide Seiten, Chinesen und Tibeter, argumentieren. Es mag wenig überraschen, dass die jeweiligen Antworten auf die Frage, ob die chinesische Herrschaft über Tibet rechtens sei, entgegengesetzt ausfallen. Die pro-tibetische Argumentation lautet: Chinas Herrschaft ist illegitim, da Tibet von jeher ein unabhängiger Staat gewesen sei. Die Beziehungen, die Tibet zu den verschiedenen chinesischen Kaiserdynastien unterhalten habe, seien vor allem religiöser Natur gewesen. Dagegen behauptet die chinesische Regierung, dass Tibet seit dem 13. Jahrhundert ein unabtrennbarer Bestandteil Chinas sei. Seither hätten die Zentralregierungen der aufeinander folgenden chinesischen Dynastien uneingeschränkt die Herrschaft über Tibet ausgeübt.
Mangelnde Faktentreue
Wie stichhaltig sind nun diese beiden Standpunkte? Der pro-tibetischen Version, die hier zugegebenermaßen zugespitzt wiedergegeben wurde, liegt ein idealisiertes Bild der tibetischen Geschichte zugrunde: Zumindest die Herrscher zweier Dynastien, nämlich die der mongolischen Yuan-Dynastie (1271-1368) und der mandschurischen Qing-Dynastie (1644-1911), haben zeitweise über Tibet geherrscht. Jedoch gab es auch lange Phasen, in denen Tibet de facto ein unabhängiger Staat war. Während der Ming-Dynastie (1368-1644) übte China keinen nennenswerten Einfluss auf die tibetische Politik aus. Die damaligen Kaiser verliehen einzelnen tibetischen Lamas lediglich kaiserliche Siegel und Titel, die aber ebenso hochtrabend wie bedeutungslos waren. Auch zu Beginn des 20. Jahrhunderts, nach dem Niedergang der Ming-Dynastie, war Tibet unabhängig von China, bis Maos Volksbefreiungsarmee im Jahr 1950 das Land besetzte.
Beide Auslegungen, die chinesische und die tibetische, sind also historisch nicht korrekt. Zudem sei angemerkt, dass die chinesische Argumentation in ihrer Gänze sehr problematisch ist. Die Sichtweise, dass China schon immer ein multinationaler Staat gewesen sei, der die verschiedensten Völker wie Mongolen, Mandschus und auch Tibeter unter der Führung der Han-Chinesen – einer Volksgruppe, die zumeist mit dem Begriff des Chinesischen assoziiert wird – unter einem Dach vereint, ist eine chinesische Konstruktion des frühen 20. Jahrhunderts. Die historischen Fakten sprechen eher dafür, dass China im 13. Jahrhundert von den Mongolen und im 17. Jahrhundert von den Mandschuren erobert wurde, und dass deren Herrschaftsdynastien nach und nach sinisiert wurden.
Marginalisierung im eigenen Land
Das Leben der heutigen Tibeter ist, auch ein halbes Jahrhundert nach ihrer "friedlichen Befreiung" durch die Chinesen, oft durch Restriktionen und subtile Demütigungen geprägt. Dies gilt vor allem für die Städte, in denen die Tibeter auf Schritt und Tritt an die chinesische Annexionspolitik erinnert werden. Beispielsweise sind Schilder an Geschäften und Behörden meist in chinesischer Sprache gehalten. Die tibetische Beschriftung findet sich, oft in deutlich kleineren Lettern, erst darunter. Zudem wird das öffentliche Leben immer mehr von den Han-Chinesen dominiert, deren massenhafte Ansiedlung in Tibet von der Regierung in Beijing betrieben wird. Neben Prämien und steuerlichen Vergünstigungen dienen als Anreiz hier vor allem gut bezahlte Jobs, wobei das Verdienstniveau deutlich über dem allgemeinen chinesischen Durchschnitt liegt. Jedoch sehen sich die wenigsten chinesischen Siedler veranlasst, Tibetisch zu lernen, und so werden den Tibetern ihre eigenen Städte fremd, zumal es vor allem die Chinesen sind, die vom wirtschaftlichen Aufschwung profitieren.
Benachteiligung im Bildungssystem
Dass viele Tibeter zwangsläufig schlechter qualifiziert sind und niedrig bezahlte Arbeiten verrichten, hat einmal mit der weit verbreiteten Korruption zu tun, von der in erster Linie die Chinesen profitieren. Zudem werden sie durch das chinesisch geprägte Bildungssystem massiv benachteiligt. So wird zum Beispiel der Unterricht in den weiterführenden Schulen in Mandarin und nicht in Tibetisch gehalten. Und häufig fehlt tibetischen Eltern das nötige Geld, um ihren Kindern eine kostenpflichtige höhere Schulbildung zu ermöglichen. All dies führt dazu, dass ein tibetisches Kind im Durchschnitt gerade einmal zwei bis drei Jahre lang eine Schule besucht und die Hälfte aller Tibeter weder Lesen noch Schreiben kann. Die soziale Benachteiligung wird also von einer Generation zur nächsten weitervererbt. Jedoch schafft es eine ganze Reihe Tibeter trotz dieser Schwierigkeiten, Universitäten zu besuchen und später eine gut bezahlte Arbeit zu bekommen. Sie stellen jedoch die Ausnahmen dar. Allerdings lastet gerade auf diesen Tibetern ein erhöhter gesellschaftlicher Druck, alles Tibetische abzulegen und sich konform den chinesischen Machthabern gegenüber zu verhalten.
Kontrolle der Mönche
Die Benachteiligungen und Reglementierungen sind in vielen Lebensbereichen spürbar. Auch im heutigen Tibet sind die buddhistische Religion und die Verehrung des im Exil lebenden religiösen Oberhaupts, des 14. Dalai Lama, allgegenwärtig. Aber der Besitz von Fotografien des "Gottkönigs" wird mit einer Gefängnisstrafe geahndet. Zwar wurden viele der größeren Klöster, die während der chinesischen Kulturrevolution fast vollständig zerstört worden waren, wieder aufgebaut, zugleich errichteten die Chinesen jedoch in den wichtigen Klöstern wie Sera und Drepung Polizeistationen. Regelmäßig werden die Quartiere der Mönche untersucht, beim kleinsten Verdacht müssen sie sich patriotischen Umerziehungskampagnen unterziehen, in denen sie gezwungen werden, den Dalai Lama zu kritisieren oder dem von China eingesetzten buddhistischen Geistlichen Panchen Lama ihre Unterstützung auszusprechen. Es besteht auch wenig Zweifel daran, dass die chinesische Regierung eher an den folkloristischen als religiösen Aspekten des tibetischen Buddhismus interessiert ist, die sich für den Tourismus vermarkten lassen. Ein wirklich freies Klosterleben ist kaum möglich: Von den traditionellen klösterlichen Kurrikula bis zur Anerkennung der Wiedergeburten verstorbener Lamas haben die chinesischen Machthaber stets das letzte Wort.
Gespaltenes Land
Wie gespalten das Land ist, zeigt sich auch daran, dass Tibeter und Han-Chinesen meist unter sich bleiben. Die chinesische Herrschaft, deren Repertoire sowohl herablassenden Paternalismus als auch offene Unterdrückung umfasst, hat bei vielen Tibetern einen tiefen Groll gegen alles Chinesische entstehen lassen. Selbst wohlhabendere Tibeter sind oft verbittert und hegen wenig wohlwollende Gefühle gegenüber den Chinesen. Zwar hat sich für die Tibeter in den letzten Jahren und Jahrzehnten auch einiges zum Positiven gewendet – kleinere Dörfer sind mittlerweile an das Elektrizitätsnetz angebunden und die medizinische Versorgung ist besser geworden –, doch diese Verbesserungen wiegen nicht das Gefühl auf, Bürger zweiter Klasse zu sein.
Die aktuellen Probleme Chinas in Tibet scheinen also zu einem großen Teil hausgemacht zu sein. Und ironischerweise ist gerade das "sozialistische" China durch seine Annexionspolitik zum Geburtshelfer eines modernen tibetischen Nationalismus geworden. Es sollte eigentlich die chinesischen Machthaber in Peking nachdenklich stimmen, wie wenig der Dalai Lama für die gegenwärtigen Spannungen in Tibet verantwortlich ist. Ihre gegenwärtige Strategie, das Tibetproblem durch die massenhafte Ansiedlung von Han-Chinesen zu lösen, wird den Konflikt voraussichtlich weiter verschärfen.
Autor/in: Volker Caumanns, Wissenschaftlicher Mitarbeiter für Tibetologie, Ludwig-Maximilians-Universität München, 30.04.2008
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