Interview
"Es ist möglich, komplett vom Containern zu leben."
Ein Gespräch mit der Vollzeitaktivistin Hanna Poddig über das Wegwerfen von Lebensmitteln und ihre politische Arbeit.
Vollzeitaktivistin Hanna Poddig
Die 25-jährige Veganerin ohne festen Wohnsitz, die als "Container-Hanna" bereits in Valentin Thurns Fernseh-Dokumentation
Gefundenes Fressen – Leben vom Abfall (Deutschland 2008) zu sehen war, kettet sich an Gleise, um gegen Atommülltransporte zu demonstrieren, druckt Flugblätter gegen Genmais oder steigt auf das Brandenburger Tor, wie 2006 zum Klimagipfel, um ein "Kohle- killt"-Plakat aufzuhängen. Aufgewachsen in dem Dorf Werneck bei Schweinfurt, lernte sie nach dem Abitur bei der Umwelt- und Naturschutzorganisation Robin Wood in Hamburg die Umweltverbands- und Kampagnenarbeit kennen. Mittlerweile plant Poddig ihre Kampagnen selbst und hat im Rotbuch-Verlag das Buch
Radikal mutig. Meine Anleitung zum Anderssein veröffentlicht.
Das "Containern", auch Dumpstern genannt, ist ein Aspekt in Ihrem politisch-engagierten Alltag. Dabei werden weggeworfene, aber noch gute Lebensmittel aus Abfallcontainern geholt. Was sind Ihre bevorzugten Orte fürs Containern?
Das ist unterschiedlich. Ich bin viel unterwegs und habe keinen festen Wohnsitz. Es gibt Städte, in denen ich nur Supermärkte kenne, in anderen gibt es Großmärkte. In letzteren findet sich eine bessere Qualität, weil sie bereits Waren wegwerfen, die nicht mehr für den Einzelhandel geeignet sind. Ich gehe natürlich gerne Bio-Containern.
Sind die Abfalltonnen denn gut zugänglich?
Bei Einkaufszentren wird der Lebensmittelmüll oft im Keller eingeschlossen, oder es gibt Zäune, um Tiere abzuhalten, aber natürlich auch Menschen. Es gibt Orte, wohin ich tagsüber gehen kann, weil es toleriert wird, und Orte, da muss ich nachts hinfahren, und da ist es nicht so cool, wenn ich gesehen werde.
Welche Erfahrungen haben Sie gemacht?
Ich habe ganz unterschiedliche Erfahrungen gemacht, auch gute. Da haben Leute gesagt, "ihr müsst das nicht aus dem Müll holen, wir können es euch schenken". Nur Lebensmittel, die das Mindesthaltbarkeitsdatum überschritten haben, dürfen wegen der Gesundheitsvorschriften nicht verschenkt werden. Das ist bei den meisten Dingen Quatsch, weil sie viel länger haltbar sind. Bei Brot sind immer mal wieder Absprachen möglich und die Bäckereien legen etwas zurück.
Containern Sie daher zu zweit, weil es Ärger geben könnte?
Es gibt ein spektakuläres Strafverfahren in Döbeln in Sachsen. Zwei Leute waren containern und wurden angeklagt, obwohl der Supermarkt keine Anzeige erstattet hat. Die Staatsanwaltschaft behauptet aber, es bestehe ein besonderes öffentliches Interesse an der Strafverfolgung. Das Verfahren gegen eine der Personen wurde eingestellt, im anderen Fall wird im September verhandelt. Wir haben bereits Straßentheater in Döbeln gespielt und die Leute gefragt, was sie davon halten. Viele waren schockiert, dass es überhaupt einen Prozess gibt. Der größte Teil aber fand eher schockierend, dass so viel im Müll landet.
Rein rechtlich gesehen: Wem gehören die weggeworfenen Lebensmittel?
Rechtlich ist es unklar, ob weggeworfenen Waren in der Tonne beispielsweise noch dem Supermarkt gehören oder bereits der Müllabfuhr. Dennoch sind es Waren, ihr Diebstahl kann angezeigt werden – selbst bei einem Warenwert von null Euro. Das ist skurril, aber so ist es. Doch die Märkte erstatten eher Anzeige wegen Hausfriedensbruch.
Ekeln Sie sich nicht manchmal beim Containern oder haben Angst, krank zu werden?
Ich nehme immer Handschuhe mit. Ich gucke mir die Nahrungsmittel gründlich an, wenn ich sie auswähle, und nehme sie nicht, wenn in der Nähe Schimmel ist. Manchmal gehe ich auch gleich wieder, zum Beispiel wenn alles nass geworden ist wie manchmal bei offenen Brot-Containern.
Ist diese Art der Ernährung nicht sehr zeitaufwändig für Sie?
Nicht mehr als Einkaufen. Und: Beim Containern finde ich gleich ganz viel, nicht ein einziges Toastbrot, sondern vierzig Packungen, nicht eine Avocado, sondern zwei Paletten. So habe ich erstmal alles und muss die nächsten Tage nicht los.
Der Speiseplan richtet sich danach, was Sie gerade finden?
Durchaus.
Decken Sie Ihren vollständigen Nahrungsbedarf dadurch?
Es ist möglich, komplett vom Containern zu leben. Nudeln und Reis, haltbare Grundnahrungsmittel, sind allerdings eher schwierig zu finden.
Freeganismus verbindet die Ansprüche, frei zu sein ("free") – auch in dem Sinne, dass die kapitalistische Wegwerfgesellschaft boykottiert werden soll – und die Ausbeutung von Tieren zu vermeiden ("vegan"). Umweltschutz und soziale Verantwortung sollen zusammengebracht werden. Würden Sie sich als Freeganerin bezeichnen?
Ich bezeichne andere ja auch nicht als Einkaufen-Geher. Das ist nicht der wichtigste Teil meines Alltags und meiner politischen Arbeit. Was Freeganer ausmacht ist, dass sie vegan leben und keine Nachfrage nach tierischen Produkten schaffen, bei Dingen aus dem Container jedoch Ausnahmen machen. Wenn ich im Laden eine Packung Milch kaufe, habe ich damit eine Nachfrage geschaffen und die Milch als Lebensmittel legitimiert.
Sind Sie mit der Freeganer-Bewegung vernetzt?
Ich bin mit Leuten vernetzt, die sich als freegan begreifen. Spannender ist für mich die Vernetzung mit Anarchistinnen aus Österreich, Atomgegnern aus Finnland oder Anti-Gentechnik-Aktivisten aus Frankreich. In Wien habe ich ein paar Freunde, die containern gehen und einen konsumkritischen "Kostnix-Laden" betreiben. Er basiert nicht auf Tauschlogik, sondern auf Bedarf. Wenn ich etwas nicht mehr brauche, bringe ich es dorthin, und wenn ich was brauche, kann ich es von da holen: vom Wasserkocher bis hin zu Regenschirmen, Schuhen, Kleidung. Alles.
Ihre Haltung ist konsumkritisch, Sie haben weder einen festen Wohnort noch eine feste Arbeit? Wovon leben Sie?
Ich versuche, ohne Geld auszukommen. Natürlich habe ich Ausgaben wie meinen Handyvertrag oder die Krankenversicherung. Das sind Dinge, die für meine politische Arbeit wichtig sind. Ich habe ein Buch geschrieben und werde zu Lesungen eingeladen, das reicht gerade zum Leben.
Sind die Verbraucherinnen und Verbraucher zu wenig über die Produktionszusammenhänge von Lebensmitteln informiert?
Wir haben eine Gesellschaft, die eine Unmenge an Informationen anbietet, es ist nicht mehr wie noch vor ein paar Jahrzehnten. Deswegen muss es heute vielmehr darum gehen, aufzuzeigen, dass ein solidarisches Wirtschaften ohne Konkurrenz und Gewinnmaximierungslogik möglich sein kann. Dafür braucht es eine gesellschaftliche Debatte: Wie wollen wir leben? Das hat weniger damit zu tun, sich zu fragen, ob ich im Dezember tatsächlich Erdbeeren kaufen kann. Sondern mit der Frage: Wie will ich mit anderen Menschen umgehen? Ist es gerechtfertigt, dass einige wenige über den Reichtum dieser Erde entscheiden, oder ist es ein Privileg, das es abzubauen gilt? Es gibt keinen guten Konsum, der mit einigen wenigen Änderungen im Alltag ein gutes Gewissen machen könnte. Ich muss den Leuten ihre Verantwortung bewusst machen, auf die Straße zu gehen und sich politisch mehr einzubringen.
Autor/in: Susanne Gupta, freie Publizistin für Fernsehen, Hörfunk, Print und Online, 18.08.2011
Der Text ist lizenziert nach der Creative Commons Attribution-NonCommercial-NoDerivs 3.0 Germany License.