Hintergrund
Flucht ins Urlaubsparadies
Europa und die Bootsflüchtlinge aus Afrika
Eine Urlauberin will auf Gran Canaria gestrandeten, afrikanischen Bootsflüchtlingen helfen – damit beginnt der Film
Die Farbe des Ozeans (Maggie Peren, Deutschland 2011). Ein Thema, das wir aus den Fernsehnachrichten kennen. Über Boatpeople wird wiederholt berichtet, weil die Überfahrten dramatisch sind und häufig tödlich enden. Menschen auf überladenen und seeuntüchtigen Schiffen, ausgemergelte und dehydrierte Männer, Frauen und Kinder, die sich mit letzter Kraft an Land kämpfen, Leichen oder Reste von Körpern, die an Stränden angeschwemmt werden – Bootsflüchtlinge bebildern die Berichte über europäische Debatten zur Asylpolitik wie keine andere Flüchtlingsgruppe.
Haft und Elendslager als Willkommensgruß
Die europäischen Staaten reagieren jedoch auf diese Schutzsuchenden nicht mit Mitgefühl. Haft- und Elendslager auf den Kanarischen Inseln, auf Lampedusa, auf Malta, in der griechischen Ägäis und anderswo sind der Willkommensgruß für diejenigen, die gerade ihr Leben gerettet haben. Zahlenmäßig sind Bootsflüchtlinge nur ein Bruchteil der Menschen, die es nach Europa schaffen, um Schutz und ein menschenwürdiges Leben zu suchen. Nach Angaben der europäischen Grenzschutzagentur Frontex erreichten 2011 rund 70.000 Bootsflüchtlinge die europäischen Küsten, ein Jahr zuvor - und damit vor den Flüchtlingsströmen im Zuge des so genannten Arabischen Frühlings - waren es lediglich 14.000. Ingesamt stellten 2011 knapp 300.000 Schutzsuchende einen Asylantrag in einem der 27 EU-Mitgliedsstaaten, 2010 waren es circa 250.000. Doch nicht nur in Europa suchen Menschen Zuflucht. Weit über 80 Prozent aller Flüchtlinge in der Welt leben in der unmittelbaren Nachbarregion ihres Herkunftslandes unter äußerst prekären Verhältnissen.
Wachsende Zahl von Todesfällen
Europa versucht bereits weit vor den eigenen Grenzen, Flüchtlinge abzufangen und zurückzudrängen. Damit verschwinden Menschenrechtsverletzungen und Sterben aus unserem Blickfeld. Schutzsuchende sind gezwungen, immer größere Risiken auf sich zu nehmen. Die Fluchtwege werden teurer und länger und die Todesrate steigt. Als Spanien seine Exklaven Ceuta und Melilla im Jahr 2005 mit martialischen Grenzanlagen völlig abriegelte, hatte dies zur Folge, dass sich die Fluchtrouten nach Süden verschoben – mit dramatischen Folgen. Ab 2006 starteten Flüchtlingsboote vermehrt von Westafrika über das offene Meer in Richtung der Kanarischen Inseln. Nach Schätzungen der spanischen Grenzbehörden kamen 2006 circa 6.000 Bootsflüchtlinge auf dem langen Seeweg ums Leben. Das Mittelmeer und Teile des Atlantiks entwickeln sich zunehmend zu einem Seefriedhof und menschenrechtsfreien Raum.
Abwehr auf Hoher See
EU-Mitgliedsstaaten haben gemeinsam mit spanischen Patrouillenbooten im Seegebiet zwischen Westafrika und den Kanaren Flüchtlingsboote bereits auf Hoher See aufgebracht und nach Westafrika zurückgebracht: 5.969 Menschen allein in 2006. In Mauretanien wurden diese Flüchtlinge festgenommen, misshandelt und massenhaft in die Nachbarländer Senegal oder Mali abgeschoben oder ohne Verpflegung an der Grenze ausgesetzt. Koordiniert wurde diese Abwehr von der Grenzschutzagentur Frontex. Diese vorverlagerte Abwehr ist aus Sicht der spanischen Behörden und Frontex ein Erfolg, ja ein Modell für Europa.
Die Kanaren als Fluchtziel
In den Booten sitzen meist Menschen, die ihr Land aus existenziellen Nöten und Bedrohungen verlassen. Flüchtlinge, die vor Krieg und Unterdrückung fliehen, aber auch Menschen, deren Lebensgrundlage zerstört wurde. Dazu gehören beispielsweise Fischer aus dem Senegal und anderen westafrikanischen Ländern: Sie machten sich auf den gefährlichen Weg zu den Kanaren, weil eine verfehlte EU-Fischereipolitik mit ihren industriellen Fangmethoden ihre Fischgründe geplündert hat. Oder, wie etwa in
Die Farbe des Ozeans Zola und sein Sohn Mamadou, die sich als Flüchtlinge aus dem Kongo ausgeben: einem Land, in dem im letzten Jahrzehnt mehrere Millionen Menschen an den Folgen von Kriegen und schwersten Menschenrechtsverletzungen gestorben sind. 2006 erreichten noch 31.000 Bootsflüchtlinge lebend die Kanarischen Inseln. 2008 waren es nur noch 9.615 Menschen. Heute schafft es kaum noch ein Flüchtling dorthin. Und der Trend hält an: 2011 wurden 5.003 Bootsflüchtlinge an der gesamten spanischen Küste registriert – davon kamen allein 3.000 aus Algerien. Bei 31.000 ankommenden Bootsflüchtlingen im Jahr 2006 sprach der Ministerpräsident der autonomen kanarischen Regierung, Adàn Martín, auf den Kanarischen Inseln von einem "nationalen Notstand". Die Beherbergung von circa 10 Millionen Urlauber/innen im gleichen Jahr schien dagegen unproblematisch. Meldungen über Unterbringungsnotstände oder Versorgungsengpässe sind in diesem Zusammenhang nicht bekannt.
Menschenrechtsgerichtshof: Das Meer ist keine menschenrechtsfreie Zone
Am 23. Februar 2012 hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg in einem Grundsatzurteil die Kooperation der früheren Regierung Berlusconi mit dem libyschen Diktator Gaddafi verurteilt. Italien hätte Bootsflüchtlinge ab Mai 2009 nicht nach Libyen zurückschicken dürfen, weil ihnen dort unmenschliche Behandlung oder gar die Abschiebung in die Verfolgerländer Eritrea und Somalia drohten. Dieses Urteil kommt für die über 1.000 Opfer der italienischen Zurückweisungspolitik zu spät. Sie wurden in den libyschen Haftlagern misshandelt und gefoltert. Zahlreiche Flüchtlinge, die in Straßburg geklagt hatten, sind verschollen, zwei starben beim erneuten Versuch nach Europa zu gelangen. Dennoch: Das Straßburger Urteil hat weitreichende Konsequenzen für die europäische Flüchtlingspolitik, weil es klar stellt, dass die Hohe See keine menschenrechtsfreie Zone ist. Die Verpflichtungen der Europäischen Menschenrechtskonvention machen nicht an den europäischen Grenzen halt – Staaten, ob alleine oder im Frontex-Einsatz, dürfen sich ihrer menschenrechtlichen Verpflichtung auch außerhalb ihrer Territorien nicht entziehen.
Arabischer Frühling – flüchtlingspolitischer Winter in Europa
Im Dezember 2010 begann, ausgehend von Tunesien, in der arabischen Welt eine Serie von Protesten, Aufständen und Revolutionen, die sich gegen die autokratischen Systeme dieser Region richteten. Die europäische Begeisterung für den "Arabischen Frühling" endete jedoch an Europas Außengrenzen. Schon bei der Ankunft der ersten Bootsflüchtlinge aus Tunesien im Februar 2011 war Europas Haltung nicht geprägt von Solidarität und Humanität. Eine populistische "Notstandsrhetorik" prägte stattdessen die europäische Flüchtlingsdebatte. Bezeichnenderweise dient die Ankunft dieser Menschen seitdem Mitgliedsstaaten des Schengen Abkommens als Grund, die Wiedereinführung von innereuropäischen Grenzkontrollen zu diskutieren und in einigen Ländern zu praktizieren. Infolge des Krieges in Libyen und nach dem demokratischen Aufstand in Tunesien waren die Fluchtwege über das Meer einige Wochen kaum überwacht. So erreichten knapp 60.000 Bootsflüchtlinge 2011 die italienischen und maltesischen Küsten. Rund die Hälfte floh direkt aus den Kriegswirren in Libyen. Das kleine Tunesien nahm Hunderttausende Flüchtlinge auf. Die EU-Staaten jedoch verweigerten schnelle Evakuierungsmaßnahmen für die in Libyen und Tunesien gestrandeten Schutzsuchenden. Über 1.500 Menschen starben nach Angaben des Flüchtlingshilfswerks der Vereinten Nationen bei der Überfahrt von Nordafrika nach Europa im Mittelmeer. Wären diese Bootsflüchtlinge Touristen/innen oder EU-Bürger/innen gewesen, die meisten von ihnen wären rechtzeitig gerettet worden. Bei Flüchtlingen ignoriert Europa oft genug die in Seenot geratenen Menschen – und nimmt ihren Tod in Kauf. In einem im März 2012 vorgelegten Bericht beklagte der Europarat die Mitverantwortung der Staaten Europas an dem Massensterben auf See und spricht von Tod durch "kollektives Versagen".
Autor/in: Karl Kopp, Europareferent von PRO ASYL, 07.05.2012
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