Hintergrund
Demokratie und Politik in Lincoln
Abraham Lincoln, im November 1860 erstmals zum Präsidenten der Vereinigten Staaten gewählt und 1865 ermordet, war zeitlebens ein Gegner der Sklaverei. Der stets gemäßigt auftretende Anwalt aus Illinois begriff sie als Geburtsfehler einer freien Nation und hatte ihre Abschaffung bereits zum Thema seines Wahlkampfs gemacht. Tatsächlich war seine Wahl ein letzter Auslöser für die Sezession der Südstaaten und den Beginn des Bürgerkriegs (1861-1865) wenige Monate später. Der Bruch der Union war eine Katastrophe, die der Präsident in den Griff bekommen musste. Vor diesem Hintergrund müssen einige relativierende Aussagen Lincolns verstanden werden. "Könnte ich die Union retten, ohne auch nur einen Sklaven zu befreien, so würde ich es tun", schrieb er 1862 in einem offenen Brief an die
New York Tribune. Steven Spielbergs Film
Lincoln (USA 2012) beschreibt seine Politik im Januar 1865, als er diese Strategie grundlegend änderte. Denn in seinen letzten Lebensmonaten reifte in ihm der Entschluss, beide Kriegsziele miteinander zu verknüpfen: Die rechtliche Abschaffung der Sklaverei sollte den konföderierten Süden wirtschaftlich schwächen und so den Frieden erzwingen.
Abschaffung der Sklaverei als Ziel
Die rechtliche Situation war, wie Lincoln im Film seinem Kabinett darlegt, heikel: Bereits die 1862 ausgerufene Emanzipations-Proklamation hatte die Sklaven/innen des Südens "befreit" – allerdings nur nach dem Kriegsrecht. Indem er sie als konfisziertes Eigentum behandelte, hatte Lincoln die Besitzrechte der Sklavenhalter faktisch anerkannt. Ihr zukünftiger legaler Status, selbst nach einem Sieg des Nordens, war ungewiss. Aus diesem Grund drängte er mit aller Macht auf die Durchsetzung des 13. Verfassungszusatzes zur endgültigen Abschaffung der Sklaverei. Der Senat, die eine von zwei Kammern des US-Kongresses, stimmte dem Gesetz schnell zu. Die noch heute für jeden Beschluss erforderliche Zustimmung des Repräsentantenhauses, der zweiten Kammer, gestaltete sich schwieriger. Dabei waren dort zu jener Zeit, nach Auszug der Südstaaten-Parlamentarier, nur noch die Nordstaaten vertreten.
Grabenkämpfe im Repräsentantenhaus
Der Film, eine intensive Abfolge wortreicher Parlamentsdebatten und Hinterzimmergespräche, zeigt: Einigkeit herrschte lediglich über den Frieden als oberstes Kriegsziel. Insbesondere die Partei der Demokraten, anders als heute konservativer eingestellt als Lincolns Republikaner und mit der Sache des Südens emotional verbunden, bekämpfte die Gleichstellung der Afroamerikaner/innen bisweilen heftig. Der New Yorker Abgeordnete Fernando Wood, auch im Film ein feuriger Redner, erwog sogar eine Abspaltung seines eigenen Staates von der Union. Auf der anderen Seite des politischen Spektrums fand sich der Republikaner und Abolitionist Thaddeus Stevens. Seine gegen Ende des Films angedeutete geheime Beziehung mit der dunkelhäutigen Witwe Lydia Hamilton Smith gilt als historisch wahrscheinlich. Radikale Ansichten wie die Stevens', etwa in Bezug auf ein mögliches schwarzes Wahlrecht, ließen viele gemäßigte Kräfte in beiden Parteien vor einer Zustimmung zurückschrecken.
Das Kalkül des Präsidenten
In einer solchen Situation hätte ein Abwarten nahe gelegen – die Wiederwahl im November 1864 hatte den Republikanern einen Erdrutschsieg beschert. Das im Januar über das Gesetz streitende Repräsentantenhaus war bereits abgewählt und mit der neuen Sitzverteilung winkte eine mögliche Mehrheit in wenigen Wochen. Doch eben diese Situation machte sich der Präsident zunutze, um die zur Abstimmung nötigen 20 zusätzlichen Stimmen zu sichern. Sein taktisches Kalkül: Die 64 nur noch als sogenannte "lame ducks" (dt.: "lahme Enten") im Parlament sitzenden Abgeordneten, ohnehin um ihre Zukunft bangend, waren nicht mehr weisungsgebunden und damit politisch manipulierbar. Die im Film gezeigte Lobbyarbeit, inklusive Postenversprechen und möglicherweise Bestechung, lässt sich historisch schwerlich belegen. Sie fügt sich jedoch ins Bild eines Präsidenten, dem zur Wiederherstellung des Friedens tatsächlich fast jedes Mittel recht war. Schon mit der teilweisen Aufhebung der Habeas-Corpus-Akte, des Gesetzes zum Schutz der persönlichen Freiheit, im ersten Kriegsjahr – ein in der US-amerikanischen Rechtstradition ungeheuerlicher Vorgang – hatte er sich über das Gesetz gestellt.
Lincoln – ein Film über demokratische Prozesse
In den wortreichen Debatten von Lincoln gehen solche wichtigen Informationen bisweilen unter. Dennoch wird Spielbergs Absicht deutlich: Gerade die Fülle und Komplexität der vorgebrachten Argumente vermitteln einen starken Eindruck vom Ablauf demokratischer Prozesse, heute wie damals. Sie erfordern Instinkt, Geduld und den Mut zum Kompromiss. Politische Überzeugungen treffen auf lobbyistische Interessen, die Gefahr illegaler Einflussnahme und Manipulation ist nie auszuschließen. Konkrete Beispiele aus der Gegenwart sind leicht zu nennen: US-Präsident Barack Obamas Bemühungen um eine Gesundheitsreform werden mit ähnlicher Wucht torpediert wie Lincolns Gleichstellungspolitik – an den Vorbehalten der südlichen und westlichen Staaten gegen die "tyrannische" Zentralmacht in Washington hat sich wenig geändert. Und in den ideologischen Debatten etwa um die Eheschließung oder gar ein Adoptionsrecht von Homosexuellen formulieren gemäßigte Kräfte ähnlich gewundene Kompromissformeln wie der umgestimmte Thaddeus Stevens im Film: "Ich bin nicht für Gleichheit in allen Dingen, aber für Gleichheit vor dem Gesetz." Spielbergs Film zeigt Politik, wie wir sie jeden Tag erleben, nämlich nicht als ehrfurchtgebietende Abfolge großer Reden und Taten, sondern als die noch viel schwierigere Kunst des Möglichen.
Die Rolle der Afroamerikaner
Vereinzelte Stimmen in den USA haben an dieser Darstellung Kritik geübt. Sie gilt weniger der Interpretation Lincolns, dessen Rolle als treibende politische Kraft der Sklavenbefreiung unbestritten ist, sondern einer Überbewertung parlamentarischer Politik allgemein. Nach Ansicht vieler afroamerikanischer Historiker/innen hatten sich zahllose Sklaven/innen längst selbst befreit, indem sie ihre Plantagen verließen und gen Norden wanderten – eine Abstimmung mit den Füßen und zugleich eine der Ursachen des Krieges. Darunter fanden sich Persönlichkeiten wie Elizabeth Keckley und William Slade, im Film korrekt dargestellt als Lincolns Hausangestellte. Dass sie jedoch mehr taten, als ihrem Präsidenten die Handschuhe zu reichen und die Ergebnisse seiner Politik abzuwarten, wird unterschlagen: Beide waren in der massiv angewachsenen Schwarzengemeinde Washingtons politisch und karitativ aktiv. In Spielbergs Film bleibt die Emanzipation eine Sache starker weißer Männer; ausgerechnet die Darstellung der Afroamerikaner, um deren Befreiung sich alles dreht, lässt zu wünschen übrig.
Ein historischer Meilenstein
An der politischen Bedeutung der Vorgänge ist nicht zu zweifeln. Am 31. Januar 1865 wurde der 13. Zusatzartikel zum Verbot der Sklaverei endlich – es war bereits der zweite Anlauf – mit 119 gegen 56 Stimmen angenommen. Die erforderliche Zweidrittelmehrheit war knapp erreicht, der Jubel unter den Abgeordneten nach Zeugenberichten groß. Im Mai verkündete der Süden seine Kapitulation. Lincolns Ermordung wenige Wochen zuvor, im Film als Epilog nachgereicht, konnte nichts mehr ändern: Der erste moderne demokratische Staat war seinem Vorbildcharakter gerecht geworden, hatte unter ernormen Druck seine schwerste Prüfung bestanden und sich darüber geeint. Die Taktik des Präsidenten war aufgegangen und sein Lebenswerk vollendet.
Autor/in: Philipp Bühler, Filmjournalist und studierter Politikwissenschaftler und Historiker, 09.01.2013
Mehr zum Thema auf kinofenster.de:
Weitere Texte finden Sie mit unserer Suchfunktion.
Der Text ist lizenziert nach der Creative Commons Attribution-NonCommercial-NoDerivs 3.0 Germany License.