Der Traum vom Fliegen: Thomas wünscht sich weit weg. Schon als kleines Kind stellt er sich vor, ein schnittiges Propellerflugzeug zu besteigen, um der Enge seiner Familie zu entkommen. Auch später bleibt ihm diese Vision treu: während der Zeit in der Kadettenanstalt, während des Studiums oder im Gefängnis. Und selbst dann noch, nachdem er der allgegenwärtigen Bevormundung im Osten Deutschlands entkommen und im Westen endlich all das tun konnte, was ihm in der DDR verwehrt wurde: zu veröffentlichen, seine Stücke auf großen Theaterbühnen zu erleben und sogar Filme zu inszenieren.
Lieber Thomas charakterisiert Thomas Brasch als Suchenden. Schneidend präzise analysiert er seine Umgebung, kann sich jedoch selbst von seinen inneren Zwängen nicht befreien. Tatsächlich verlief das Leben von Brasch kometenhaft. Er erlebte Krisen, Triumphe und Katastrophen, von denen einige im Film erzählt werden. 2001 stirbt Brasch in Berlin, gerade einmal 56-jährig. Er ist körperlich und seelisch gebrochen und vom öffentlichen Leben weitgehend abgeschnitten, was in der
Schlussszene eindringlich vermittelt wird.
Regisseur Andreas Kleinert und
Drehbuchautor Thomas Wendrich arbeiten in
Lieber Thomas den widersprüchlichen Charakter und das vielgestaltige Werk Braschs heraus. Vor allem aber entfacht der Film Neugierde, sich mit den Werken des Künstlers zu beschäftigen und diese zu kontextualisieren: sozial, geschichtlich, politisch. Dies wird vor allem dadurch erreicht, indem die Stereotypen des
"Biopics" gegen den Strich gebürstet werden. Obwohl sich die Geschichte chronologisch entwickelt, werden die einzelnen Episoden nie als folgerichtige Kapitel erzählt, die schließlich in eine klare Botschaft münden. Der Film bedient sich vielmehr einer fragmentarischen Struktur. Euphorie und Abstürze, trockener Realismus und rauschartige Passagen liegen eng beieinander, so wie im chaotischen Leben des Künstlers auch. Braschs systemübergreifendes Unbehagen formuliert sich im Gedicht "Was ich habe, will ich nicht verlieren" – die Verse dieses Textes gliedern das Geschehen, schaffen gleichzeitig einen poetischen Assoziationsraum. Neben den vitalen
Schwarz-Weiß-Bildern, den traumhaft-exzessiven Einschüben und den souveränen darstellerischen Leistungen ist es vor allem dieses Insistieren auf die Sprache, mit dem Brasch als kreativer und unangepasster Mensch gewürdigt wird.
Der Film empfiehlt sich sowohl für den Ethik- und Religionsunterricht als auch für Literatur und Geschichte. Er macht mit dem Milieu der künstlerischen DDR-Opposition bekannt und zeigt, wie komplex die familiären und politischen Verstrickungen einiger damaliger Akteur/-innen waren. Ihre Anstrengung, zu einer eigenen Position zu gelangen, wird ebenso deutlich wie die Unberechenbarkeit der staatlichen Repressionen. Anhand der in den Film einfließenden Texte Braschs kann diese Suche nach einer autonomen Position am konkreten Beispiel herausgearbeitet werden. Von besonderem Interesse bei dieser Filmbiografie ist die übergangslose Vermischung von verbürgten Lebensdaten mit freier Fiktionalisierung. Während zum Beispiel einige Akteur/-innen mit ihren historisch nachprüfbaren Namen auftreten (Biermann, Havemann), tragen andere Personen Pseudonyme. Dieser Kunstgriff regt zur Diskussion über die Legitimität des Verfahrens an. Wo liegen seine Vorteile und Grenzen?
Autor/in: Dr. Claus Löser, Filmhistoriker und Kurator, 10.11.2021
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