Eines der bekanntesten Bilder des Nordirlandkonflikts findet sich auf einer Schallplatte: Aus einer konfusen Menschenmenge heraus blickt ein Junge, mit einem Koffer unter dem Arm, verstört in die Kamera. Als die britisch-irische Popgruppe Dexys Midnight Runners das Schwarzweißfoto auf das Cover ihrer 1980 erschienenen LP "Searching for the Young Soul Rebels" nahm, waren die genaueren Umstände noch unbekannt: Es zeigt den 13-jährigen irisch-katholischen Jungen Anthony O‘Shaughnessy, der während neuer Gewaltausbrüche im Jahr 1971 das Haus seiner Familie in Belfast verlassen muss. Neben ihm sieht man seine zwei kleinen Brüder. Kenneth Branaghs Belfast setzt diesem auch im Kino selten gezeigten historischen Moment einer Vertreibung, der am Anfang der euphemistisch "Troubles" genannten Konflikte steht, ein Denkmal. Sein nostalgischer Kinderblick widerspricht allerdings dem Bild, das die Geschichte dieser Aufnahme und auch die meisten "Nordirland-Filme" seitdem vermitteln.
Nahezu alle Filme zum Thema lassen sich als Gewaltstudien begreifen. Sie zeigen eine zerrissene Gesellschaft, am klarsten vielleicht in Jim Sheridans Der Boxer (IRL/USA, 1997): Mauern, die sogenannten "Peace Lines", zerreißen in Städten wie Belfast oder Derry ganze Stadtteile, Protestant/-innen und Katholik/-innen stehen sich unversöhnlich gegenüber. Bombenattentate, Mordanschläge untereinander verfeindeter Gruppen und die unweigerlich folgenden Hausdurchsuchungen nach versteckten Waffen durch das britische Militär sind an der Tagesordnung. Fragen nach Loyalität und Kampfbereitschaft zerreißen auch die Familien in einer Krisensituation, deren historische Koordinaten längst feststehen: Auch nach der Ausrufung der Republik Irland im Jahr 1949 halten die Briten die sechs nordirischen Grafschaften besetzt, es ist die Fortsetzung der jahrhundertealten Unterdrückung durch den mächtigen Nachbarn. Auf dieses Narrativ beruft sich die irisch-katholische Terrororganisation IRA (Irish-Republican-Army) und bezieht daraus ihre Legitimation; protestantisch-unionistische Paramilitärs verfolgen mit denselben brutalen Methoden ihr Ziel einer noch stärkeren Anbindung an das Königreich. Die Sympathie oder zumindest die Aufmerksamkeit der Filmemacher/-innen gilt dabei fast immer der Seite der IRA.
Unklare Konfliktlinien
Doch in den Filmen erweisen sich die Konfliktlinien oft als weniger klar, als es zunächst scheint. Neil Jordans Debüt Angel (IRL/GB, 1982) zeigt einen unpolitischen Saxofonisten, der nach einem Anschlag auf seinen Bandmanager und eine unbeteiligte Frau zum Racheengel wird. Der Bezug zu den "Troubles" ist marginal, das Bild einer von Gewalt durchzogenen Gesellschaft umso aufschlussreicher. Mit demselben Darsteller Stephen Rea etablierte Jordan in The Crying Game (GB/USA/J, 1992) die Figur des müden IRA-Kämpfers, der an seiner Mission zu zweifeln beginnt: Fergus findet in dem schwarzen britischen Soldaten Jody, den er und seine Leute als Geisel halten, einen echten Freund. Nach Jodys Tod beginnt er eine Beziehung mit dessen Geliebter in London, muss sich allerdings der Nachstellungen seiner ehemaligen IRA-Mitkämpfer/-innen erwehren – und überdies seine sexuellen Vorstellungen überdenken. Vor allem die damals unübliche Behandlung von Fragen ethnischer und sexueller Diversität machte den Film zum Welterfolg. In Großbritannien war er zuvor, auch unter dem Eindruck eines IRA-Bombenanschlags kurz nach dem Kinostart, verhalten aufgenommen worden.
Mit Jordan und Sheridan, beide gebürtige Iren, beginnt in den 1980er-Jahren die künstlerische Auseinandersetzung mit Nordirland. Zuvor war das Feld britischen Thrillern überlassen, die reißerische Action mit geringem Verständnis der politischen Hintergründe verbanden. Dasselbe lässt sich über einige Hollywood-Produktionen wie Die Stunde der Patrioten (USA, 1991) und Vertrauter Feind (USA, 1996) sagen, in denen geheime Waffenlieferungen und die IRA-Finanzierung durch irisch-amerikanische Geldgeber für Spannung sorgen. Der damals größte und – wie damals allgemein angenommen wurde – letzte gewalttätige Konflikt in Europa, in dem Nachbar/-innen zu Mördern werden und in Zivilkleidung Jagd auf Uniformierte machen, brachte in dieser Zeit geradezu ein Genre hervor, das in seiner Darstellung klandestiner Strukturen Parallelen zum Mafiafilm aufweist. Hier wie dort gemahnen düstere Paten an Ehre, Familie und das Gesetz des Schweigens, in einem ewigen Teufelskreis aus Hass und Gewalt.
Sinnloses Töten
Als perfekte Antithese zu dieser genremäßigen Verbrämung gilt Alan Clarkes 39-minütiger Experimentalfilm Elephant (GB, 1989). In ruhigen dokumentarischen Einstellungen, mit völliger emotionaler Distanz, werden in der kurzen Zeit 18 Morde gezeigt. Zu sehen sind nur Täter und Opfer, allesamt Männer, an trostlosen Orten wie Tankstellen, Parkhäusern, stillgelegten Fabrikhallen. Kein politischer Kontext, keine psychologische Einfühlung verstellt den Blick auf die existenzielle Sinnlosigkeit dieses kalten Tötens. Der Drehort Belfast bleibt bis auf ein Straßenschild anonym. Lediglich der Titel verweist auf den berühmten "Elefanten im Raum", den niemand sehen will. Der US-Filmemacher Gus Van Sant ließ sich davon zu seinem gleichnamigen Film Elephant (USA, 2003) über einen Highschool-Amoklauf inspirieren.
Jim Sheridans Im Namen des Vaters (IRL/GB, 1993) ist zweifellos der bekannteste von vielen Filmen, die in der Folgezeit reale britische Justizskandale anklagen. Nach einem Bombenanschlag wird der Kleinkriminelle Gerry als einer der sogenannten "Guildford Four" gefoltert und fälschlich zu lebenslanger Haft verurteilt. Schon zuvor widmete sich Ken Loachs Geheimprotokoll (GB, 1990), von Teilen der britischen Presse und Politik als IRA-Propaganda attackiert, dunklen Machenschaften der britischen Geheimdienste. Unverhohlen erklärt der britische Sozialist darin die IRA-Terroristen zu "politischen Kämpfern". Eine ähnlich parteiische, aber letztlich humanistische Perspektive vertritt Mütter & Söhne (IRL/USA, 1996) von Terry George, der den berüchtigten Maze-Gefängnis-Hungerstreik von 1981 aus der Sicht der betroffenen Mütter zeigt. Doch die Kämpfe sind inzwischen geschlagen, im Jahr 1994 erklärt die IRA den Waffenstillstand. Eben diese Situation verdeutlicht wiederum Sheridan 1997 in Der Boxer: Mit einem überkonfessionellen Box-Klub will der entlassene IRA-Häftling Danny ein neues Leben beginnen. Selbst die alten IRA-Paten sind des Kämpfens müde. Doch so leicht will ein jahrhundertealter Konflikt nicht ruhen.
Der Konflikt als Historie
Seit dem Karfreitagsabkommen von 1998, das bis heute einen brüchigen Frieden garantiert, ist eine Historisierung des "Nordirland-Films" unübersehbar. Paul Greengrass‘ Bloody Sunday (GB/IRL 2002) ist eine beeindruckende Aufarbeitung des traumatischen "Blutsonntags" im Jahr 1972, dem 13 irische Demonstranten zum Opfer fielen. Sein nervöser, die hektische Situation wiedergebender Handkamera-Stil verschaffte dem Regisseur eine Weltkarriere und inspirierte ähnlich gebaute Thriller wie Omagh – Das Attentat (IRL/GB, 2004, R: Pete Travis) und ’71 (GB, 2014, R: Yann Demange). Mit gänzlich gegenteiligen Mitteln widmete sich hingegen der Künstler Steve McQueen erneut dem Thema Hungerstreik: Streng minimalistisch und doch bewegend zeigt Hunger (GB/IRL, 2008) das selbstauferlegte Martyrium des IRA-Häftlings Bobby Sands als christlich konnotierte Auseinandersetzung mit dem eigenen Tod.
Wie Belfast haben jüngst mehrere Filme versucht, selbst inmitten der "Troubles" ein Stück Normalität zu behaupten. Ein besonders lebensfrohes und zugleich wütendes Stück Kino ist Good Vibrations (GB/IRL, 2012, R: Lisa Barros D'Sa, Glenn Leyburn) über die Gründung eines Punkrock-Labels. Immens erfolgreich wurde die quirlige Channel 4-Sitcom Derry Girls (GB, seit 2018), die den Alltag von Schülerinnen einer katholischen Mädchenschule mit schwarzem Humor schildert – gelegentliche Terrormeldungen erscheinen ihnen als lästige Ablenkung von Pubertätsproblemen. Eine ähnliche Richtung suggeriert zunächst der Kinderfilm Mickybo und ich (GB/IRL/F, 2004, R: Terry Loane), der in der Handlung zudem an Belfast erinnert: Ein protestantischer und ein katholischer Junge – der Film unterlässt allerdings die jeweilige Zuordnung – lassen sich von dem New-Hollywood-WesternZwei Banditen (USA, 1969, R: George Roy Hill) zu einer wilden Flucht inspirieren. Brandstiftung und lustige "Banküberfälle" mit Spielzeugwaffen erscheinen den Neunjährigen als großes männliches Abenteuer. Erst der Schluss zerstört brutal die Illusion, der auch das Publikum zeitweise aufsitzt: Gewalt ist kein Spiel und erst recht keine Lösung, sondern erzeugt nur neues Leid. Es ist dieselbe Botschaft, die auch der große Teil dieser Filme eindrucksvoll vermittelt.
Autor/in: Philipp Bühler, freier Filmjournalist und Redakteur, 22.02.2022