Am Anfang ist es nur ein Gerücht, dem Jodi Kantor nachgeht. Bei ihren Recherchen zu Machtmissbrauch am Arbeitsplatz stößt die Investigativ-Journalistin der New York Times auf den Filmproduzenten Harvey Weinstein. Er soll jahrelang Schauspielerinnen und Angestellte sexuell missbraucht haben. Erste Nachforschungen deuten darauf hin, dass es sich nicht um einen Einzelfall handelt: Sexualisierte Gewalt scheint in Hollywood verbreitet und geduldet zu sein. Bald schon gelingt es Kantor, betroffene Frauen ausfindig zu machen, aber keine von ihnen möchte über das Erlittene sprechen oder sich gar öffentlich dazu äußern. Gemeinsam mit ihrer Kollegin Megan Twohey, die bereits Sexismus-Vorwürfe gegen Donald Trump publik gemacht hatte, beginnt Kantor eine akribische Recherche. Schließlich gewinnen die beiden Journalistinnen das Vertrauen von fünf Frauen, die missbraucht und mit Schweigegeldzahlungen systematisch mundtot gemacht wurden. Als ehemalige Mitarbeitende Schlüsselinformationen preisgeben und die Quellenlage dicht genug ist, geht die Zeitung an die Öffentlichkeit: Mit ihrem Artikel bringen Kantor und Twohey in 3.321 Worten Strukturen des sexuellen Machtmissbrauchs in der Filmindustrie ans Licht, Harvey Weinstein zu Fall - und geben Betroffenen ihre Stimme zurück.
Umgang mit realen Figuren und Ereignissen
Im Fokus von Maria Schraders Investigativ-
Thriller She Said steht die journalistische Recherchearbeit der beiden auf realen Personen beruhenden Protagonistinnen. Der Film ähnelt darin dramaturgisch anderen bekannten Filmen des
Genres wie etwa
Die Unbestechlichen (
All the President's Men, USA 1976, R: Alan J. Pakula,) über die Watergate-Affäre oder Tom McCarthys
Spotlight (USA 2015) über sexuellen Missbrauch durch katholische Geistliche. Mit ihrem Zeitungsartikel gaben Kantor und Twohey 2017 den Anstoß zu einer gesellschaftlichen Debatte, die zur weltweiten #MeToo-Bewegung führte.
Die Herausforderung, den Arbeitsalltag der Journalistinnen so realitätsnah wie spannend nachzuzeichnen und mit der Geschichte der Opfer ohne Reproduktion von Gewaltdarstellung umzugehen, lösen
Drehbuch und
Inszenierung geschickt. Das Skript von Rebecca Lenkiewicz ist in enger Zusammenarbeit mit Kantor und Twohey entstanden und basiert auf deren 2019 veröffentlichtem Buch
She Said. Dialogpassagen wurden daraus teilweise wörtlich übernommen.
Dokumentarisches Gewicht verleiht
She Said auch die Mitarbeit von Ashley Judd. Die Schauspielerin, als prominentes Opfer Weinsteins eine Schlüsselfigur des Missbrauchskomplexes, spielt im Film sich selbst. Die sexuellen Übergriffe werden dabei nie gezeigt, sondern von den Betroffenen in den Gesprächen mit den Journalistinnen erzählt oder aus dem Off geschildert. In einer
Szene dokumentiert eine reale Audioaufnahme von Weinstein und einer jungen Schauspielerin, wie der Filmproduzent sie unter Druck setzt. Wenn die Kamera durch exemplarisch inszenierte leere Hotelflure und -zimmer gleitet, füllen die Worte der Frauen den szenischen und imaginären Raum konkret aus, ohne je bildhaft zu werden.
Schrader drehte ihren Film an
Originalschauplätzen: in der Redaktion der New York Times, in vollen Cafés und Kantinen und auf belebten Straßen. Ständig sind die beiden Journalistinnen von einer lärmenden betriebsamen Außenwelt umgeben, die zu ignorieren scheint, was vor sich geht und mit ihrer
Geräuschkulisse das anfängliche Schweigen der Opfer konterkariert. Verstärkt wird die spannungsvoll-hektische Atmosphäre durch den sich genretypisch verdichtenden Erzählrhythmus. Ortswechsel veranschaulichen den Rechercheprozess, bringen dessen Ausmaß und internationale Tragweite zum Ausdruck.
Rückblenden und Zeitsprünge zeichnen Ereignisse nach und betonen die Allgegenwärtigkeit, die die Missbrauchserfahrungen für die Opfer bis heute haben.
Beruf und Alltag: Journalistinnen, Frauen, Partnerinnen, Mütter
Der Film zeigt zwei Frauen als Heldinnen, die sich mit Entschlossenheit, Mut und Unerschütterlichkeit ihrer journalistischen Arbeit widmen, Fakten sammeln, Verborgenes aufdecken und – in ständigem Austausch mit der Chefredaktion – sich und ihr Tun auch hinterfragen. So unerschrocken sie gegenüber Mitwissenden und dem Täter auftreten, so empathisch sind sie im Gespräch mit Betroffenen. Was die Arbeit den Frauen, die beide Mütter sind, abverlangt, wird durch häufige Einblicke in das Privatleben miterzählt. Wie wenig Zeit und Kapazität für die Familie bleibt oder welcher Gefahr sie durch ihre Arbeit ausgesetzt sind, macht der Film dabei oft beiläufig und in diesen Momenten umso eindringlicher deutlich. In Nebensätzen und indirekten Dialogen erfahren die Zuschauenden so von Twoheys postnataler Depression oder von Morddrohungen.
Im Film taucht Harvey Weinstein als Antagonist nur auf der Tonebene und im Bild lediglich kurz in Rückenansicht auf, halb verdeckt oder durch Glasscheiben. Obwohl Maria Schrader ihm somit kaum sichtbare Präsenz einräumt, wird spürbar, welche Macht von dem Filmproduzenten ausgeht – eine missbrauchte Macht, die das System, das diese Geschichte auf die Leinwand bringt, jahrelang durch Wegsehen mitgetragen hat. Indem
She Said den Täter jedoch visuell zu einer Randfigur macht und sich klar auf die Seiten der Frauen schlägt, fordert er dazu auf, weiter genau hinzusehen, Arbeitsbedingungen zu hinterfragen, strukturelle Gewalt aufzudecken und Missbrauchsstrukturen abzubauen – auch über die Filmbranche hinaus.
Autor/in: Lisa Haußmann, Filmwissenschaftlerin und freie Filmvermittlerin, 07.12.2022
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