Der amerikanische Regisseur Gus van Sant hat schon einige Filme über Jugendliche gedreht, in deren Leben die elterliche Autorität keine positive Rolle mehr spielt und durch Orientierung an Altersgenossen ersetzt worden ist. Was ihn zu bewegen scheint, ist offenbar die Frage, wie sich ein einzelner Jugendlicher von seiner Gruppe lösen kann, wie er zu sich selbst findet und für sein Leben die Verantwortung übernimmt. Auch sein neuester Film
Good Will Hunting folgt dieser Spur. Vier Freunde, Gelegenheitsarbeiter aus einem heruntergekommenen Viertel in Süd-Boston, verbringen ihre Zeit mit dem Anmachen von Mädchen, mit Autofahrten, Besäufnissen und Schlägereien. Hinter dieser Fassade von Männlichkeitsritualen stecken allerdings sensible Menschen. Im Mittelpunkt steht Will Hunting, ein Mathematikgenie mit einem fotografischen Gedächtnis. Doch seine erstaunlichen Fähigkeiten verpuffen in diversen "Hahnenkämpfen".
Was bewahrt ihn davor, sein Talent zu verschleudern und als belächelter Sonderling auf der Straße zu enden? Will putzt in der technischen Hochschule und löst – im Vorübergehen – an der Wandtafel Professor Lambeaus mathematische Aufgaben auf eine Art, dass dieser ihn zu suchen beginnt. Lambeau findet ihn als Angeklagten vor Gericht und verschafft ihm trotz seines langen Vorstrafenregisters noch einmal eine Verurteilung auf Bewährung. Die Bedingung ist, dass sich Will einer Therapie unterzieht und mit dem Professor mathematische Probleme erörtert. Hinter diesem etwas konstruiert wirkenden Plot scheint das eigentliche Thema des Films auf: Der Regisseur untersucht an der Figur von Will Hunting exemplarisch den Weg aus einem sozial schwierigen Milieu und aus Gruppenkonformität zu Selbsterkenntnis und einem Platz in der Gesellschaft. Sowohl die Mathematik- als auch die Therapiestunden erweisen sich für Will als Kinderspiel. Er ist einfach noch brillanter als der vielfach ausgezeichnete Professor, und er lehrt die Therapeuten das Fürchten, die ihn unisono zu einem nicht therapierbaren Fall erklären. Will sieht dennoch keinen Grund, seinen Lebensstil zu bedenken oder gar zu verändern. In der Gestalt des Psychologen, mit dem es Will Hunting nach den missglückten Therapieversuchen zu tun bekommt, wird das eigentliche Anliegen des Films deutlich. Sean McGuire ist – anders als sein ehemaliger Studienkollege Lambeau, der ihn für einen Versager hält – nicht Sprosse um Sprosse die akademische Karriereleiter hinaufgeklettert. Er machte bittere Erfahrungen mit dem frühen Tod seiner Frau, scheiterte in vielem und ging trotzdem nicht unter. Sein Ansatz als Psychologe ist die radikale Anerkennung des Gesprächspartners, was zum Beispiel in Wills Fall bedeutet, dass man zusammen auch einmal eine Therapiestunde lang schweigen kann. A. S. Neill, der Praktiker der antiautoritären Erziehung in Summerhill, hätte seine Freude an der Konsequenz McGuires gehabt, der theoretisch ein Schüler von ihm sein könnte. Van Sant geht es um die Diskussion konträrer Erziehungskonzepte und Männerbilder. Sean McGuire und Professor Lambeau liefern sich folgenden, sich selbst erklärenden Schlagabtausch: "Will wird scheitern, wenn du ihn antreibst und ihm nicht selbst seinen Weg finden lässt." – "Du musst ihn in eine Richtung stoßen. Ich bin das geworden, was ich bin, weil ich dazu angetrieben wurde!"
McGuire behält recht. Er findet Wills Vertrauen, weil er nicht gegen ihn gewinnen will, sondern mit ihm über sein Leben spricht und sein eigenes Leben enthüllt. Schließlich ist dabei auch zu erfahren, dass das Vertrauen zu anderen Menschen Will von den Eltern mit Prügeln ausgetrieben wurde. Eine Folge ist seine Unfähigkeit, selbst eine tragfähige Beziehung zu einem anderen Menschen aufbauen, geschweige denn lieben zu können. Will stoße, so McGuires Erklärung, andere Menschen zurück, um nicht von ihnen verlassen zu werden. Am Ende haben sich Will und McGuire – hervorragend gespielt von Matt Damon und Robin Williams – weiterentwickelt. Will erkennt, dass sein Platz im Leben nicht bei seinen Freunden in Süd-Boston ist, und nimmt einen der offerierten Jobs an. McGuire gibt es auf, sich aus Trauer um den Tod seiner Frau in Arbeit zu vergraben. "You're a free man!" Mit diesen Worten beendet McGuire die Therapie. Zur konzeptionellen Stärke des Films gehört, dass das Ergebnis noch einmal geprüft wird: Vor die Wahl zwischen Karriere und Reise zur Liebsten in Kalifornien gestellt, entscheidet sich Will – wirklich frei – fürs 'Lebendige'.
Autor/in: Pit Fiedler, 01.02.1998