Die Kassette ist nur zufällig in seinem Besitz geblieben: In einer finsteren Phase seines Lebens hat Joe sich durch den Verkauf von geklauten Musikkassetten das nötige Kleingeld besorgt. Blues, Shanty, Pop – das ging weg wie warme Semmeln. Nur diese eine Kassette, eine Beethoven-Sonate, die wollte keiner. Also hat er sie an sich genommen und kennt sie nun auswendig. Heute hört er sie kaum noch, außer "wenn ich mich an diese schlimme Zeit erinnern will", erklärt er der Sozialarbeiterin Sarah. Diese Zeit liegt ziemlich genau zehn Monate zurück. Seither ist Joe 'trocken', geht zu den Treffen der Anonymen Alkoholiker und versucht standhaft zu bleiben inmitten der mannigfaltigen Verlockungen und Erpressungen, die im vertrackten Zusammenspiel von Arbeitslosigkeit, gesellschaftlichen Ausgrenzungen und Missständen, Vorverurteilungen, Selbstbetrug und Selbstmitleid entstehen. "Security" steht auf den Achselklappen der Nachtwächteruniform seines Freundes Shanks, der erst sich selbst, dann Joe aus dem Suff geholt hat und im Film nur sehr sporadisch wie ein Schutzengel auftaucht. Und so wie er am Schluss in einem entscheidenden Moment nicht da ist, gibt es keine 'Sicherheit', weder im aktuellen ökonomischen und gesellschaftlichen System Großbritanniens noch in den sozialen und emotionalen Beziehungen.
Joe und Sarah haben sich bei einer jungen Familie kennen gelernt, um die sich beide kümmern. Sarah, weil sie als Sozialarbeiterin den beiden jungen Eltern Liam und Sabine helfen will, aus dem Teufelskreis der Drogenabhängigkeit (Sucht, Prostitution, Gewalt, Kriminalisierung) zu entkommen. Joe fühlt sich für Liam verantwortlich, weil dieser in der Fußballmannschaft spielt, die er trainiert und für die er sich mit aller Kraft einsetzt. Eine Mannschaft wahrlich, die auf Niederlagen programmiert ist, ein "Dreamteam" aus Verlierern, die sich toll fühlen in den Trikots der Nationalmannschaft von West-Germany – bis sie irgendwann einen Transporter überfallen und nicht mehr in Weiß-Schwarz, sondern in Gelb-Blau auflaufen ("eine Sünde!", zischt der Schiedsrichter). Alle sind sie arbeitslos und leben von Sozialhilfe – in Ruchill, einem Glasscherbenviertel von Glasgow. Die Mannschaft, auch das ist gewiss, stellt für manchen im Team den letzten Hort von Menschlichkeit und Anerkennung dar, eine Selbsthilfegruppe zur Errettung der Hoffnung auf generelle Besserung des insgesamt verkorksten Lebens unter allgemein verkorksten Verhältnissen.
Wie überlebt man unter solchen Bedingungen? Joe und Sarah sowie Liam und Sabine – zwei Paare, bei denen das eine gerade scheu beginnt, sich aufeinander einzulassen und das andere am verzweifelten Ende einer noch jungen und doch schon schwer geprüften und geschundenen Liebe – geraten in die unvermeidliche Spirale des Milieus. Am Ende des Films wird Liam beerdigt und Sarah scheint in einiger Entfernung vom Grab auf Joe gewartet zu haben. Ein offener Schluss. So wie die Beethoven-Sonate das musikalische Leitmotiv für Joe darstellt, markiert das Team und das Zusammenspiel von mehreren das Leitmotiv für die Botschaft der Solidarität des Regisseurs Ken Loach. Seit seinem Aufsehen erregenden Anfang als Spielfilmregisseur mit
Poor Cow (1967),
Kes (1969) und
Familienleben (1971) untersucht er Geschichte und Gegenwart der britischen Klassengesellschaft mit intelligenten, gewitzten und berührenden Filmen wie
Raining Stones (1992/93),
Riff-Raff (1990)
und Ladybird, Ladybird (1993). Unbeirrbar blieb er seiner politischen Aufklärungsarbeit treu. Stets setzte er auf soziale Verantwortung und Klassensolidarität und ist dabei mit den realen Lebensverhältnissen der sozial Benachteiligten und Ausgegrenzten so vertraut, dass er sich und den Zuschauern pauschale Dramatisierungen ersparen kann. Dementsprechend gibt es auch keine simplen Lösungsvorschläge. Die Zuschauer werden vielmehr auf anschauliche und nachhaltige Weise in ein komplexes Universum geführt, in dem sie sich den Protagonisten nah und gleichzeitig in der eigenen Realität gegenwärtig fühlen. Die Authentizität des Milieus entsteht nicht nur dadurch, dass in Regionen gedreht wurde, die von hoher Arbeitslosigkeit betroffen sind, sondern auch durch subtil und treffend gezeichnete Charaktere. Gepaart mit einem pointierten, grimmigen Humor ergibt dies eine Tragikomödie, die höchste inhaltliche Komplexität einerseits und publikumswirksame Unterhaltung andererseits vereint. Eindrücklich demonstriert wurde dies auf der Piazza Grande während des Filmfestivals von Locarno, als Ken Loach mit einer minutenlangen stehenden Ovation empfangen wurde.
Autor/in: Conny E. Voester, 01.01.1999