Der Politthriller: Die Bedrohung des Einzelnen
Ein Politthriller – das kann die Fernsehübertragung einer Bundestagswahl sein, wenn der Wahlausgang von einer Minipartei abhängt, deren Einzug in das Parlament wegen der Fünf-Prozent-Hürde bis Mitternacht offen ist. Das englische Wort "thrill" bedeutet "packen, aufwühlen erregen". Entsprechend kann für den politisch interessierten Fernsehzuschauer wie für den Politiker, der regieren will, der ungewisse Wahlausgang äußerst aufregend und nervenzerfetzend sein. Immerhin geht es hier um das, was Politik zuallererst ist: Macht. Ein Politthriller ist also ein Medienprodukt, in dem es um Spannung und um Macht geht. Politthriller werden in der Realität oft inszeniert und hängen meist mit dem Suspense von Ultimaten zusammen. Ein Datum ist gesetzt, die Uhr tickt. Wie werden die Protagonisten agieren, wenn das Ultimatum abgelaufen ist? Die Zuschauer der Nachrichtensendungen im Fernsehen fiebern mit. Am Beispiel sieht man, wie sehr die Dramaturgie der Medien und die Dramaturgie der Politik einander gleichen können.
Tatsächlich wird mit dem Begriff Politthriller ein Roman, ein Spielfilm oder ein Fernsehfilm bezeichnet, der politisch motivierte Geschehnisse in spannende Unterhaltung umsetzt. Der Begriff ist seit den 60er Jahren eingeführt. Die Sechziger gelten als eine Epoche zunehmender Politisierung des Alltags und der Unterhaltungsindustrie – auch ein Resultat der Entdeckung von Verstrickungen demokratischer Systeme mit undemokratischen Gewaltstrukturen und mafioser Kriminalität. Frankreich verwickelte sich in den algerischen Unabhängigkeitskrieg und zog politische Terroristen ins europäische Mutterland. In Griechenland wurde 1963 der linksdemokratische Abgeordnete Greogorios Lambrakis ermordet und das Verbrechen von politischen Kreisen vertuscht. Nach der Verurteilung der Hintermänner putschten 1967 die Generäle und verwandelten Griechenland in eine rechte Diktatur. In Italien kamen die ersten Verdachtsmomente über die Verfilzung von Politik und organisierter Kriminalität auf, die noch 30 Jahre später zur Aburteilung prominenter Repräsentanten der Politik führten. Und die USA unterstützten nicht nur Militärdiktaturen in Lateinamerika, sondern führten am Ende der 60er Jahre in Vietnam einen fragwürdigen und von Menschenrechtsverletzungen durchzogenen Krieg.
Alle diese politischen Ereignisse wurden Stoff von Spielfilmen, die zum Teil Romanverfilmungen oder Verfilmungen von Zeitzeugen-Texten und journalistischen Recherchen waren. Der Film Z von Constantin Costa-Gavras über die Affäre Lambrakis (1968) hat geradezu idealtypisch das Schema entwickelt, an dem sich viele spätere Politthriller orientierten. Hauptfiguren sind ein Journalist und ein Jurist, die mit dem Spürsinn und der moralischen Integrität von Detektiven aus dem klassischen Kriminalthriller die Fakten und Hintergründe des Falles bis in die höchsten Politik-Zirkel ermitteln und sich dabei in Lebensgefahr begeben. Journalisten und Juristen bleiben von da an die hauptsächlichen Protagonisten des Politthrillers. Ebenso stilbildend wurde der Schluss von Z. Die Helden werden verhaftet. Auf den Straßen rollen die Panzer. Das Publikum wird nicht mit dem Gefühl aus dem Kino entlassen, hier hätten seine medialen Stellvertreter die Ordnung wieder hergestellt. Die Botschaft heißt vielmehr: Seid wachsam, der Schoß ist fruchtbar noch ...
Um das politische/filmische Panorama der 60er Jahre zu skizzieren: Die Ereignisse in Algerien wurden zuerst von Gillo Pontecorvo in Die Schlacht um Algier (1965) aufgegriffen; Francesco Rosi war mit Wer erschoß Salvatore G. (1961) und Hände über der Stadt (1963) der erste, der die italienischen Verhältnisse zur Sprache brachte. Die Politik der USA in Lateinamerika kritisierten u. a. Peter Lilienthal mit Es herrscht Ruhe im Land (1975) oder Constantin Costa-Gavras in Missing (Vermisst, 1981). Und der Vietnamkrieg hat ein eigenes Genre hervorgebracht, mit dem die USA das Trauma ihrer Niederlage zu bearbeiten versuchten.
Eine Voraussetzung für das Entstehen des Politthrillers als Gattung des Spannungskinos war also die reale Kriminalisierung von Politik. Um Macht zu erhalten oder durchzusetzen, wurden rechtswidrige Praktiken bis hin zu Folter und Mord eingesetzt. Solche Praktiken ließen sich in der journalistischen oder juristischen Recherche aufdecken. Konkreter investigativer Journalismus wie im Fall Watergate oder konkrete juristische Spurensuche wie im Mordfall Kennedy dienten Politthrillern wie Die Unbestechlichen von Alan J. Pakula (1976) oder JFK von Oliver Stone (1992) als Vorbild. Wie Stone begriff eine ganze Reihe anderer Regisseure von Politthrillern (etwa Francesco Rosi) ihre Arbeit als eine Art investigatives Filmemachen, als Information des Publikums über einen Aspekt von politischer Wirklichkeit. Insofern ist ein Politthriller stets parteilich und durchaus verwandt mit dem Propagandafilm. Der Zuschauer soll zuerst emotionalisiert und dadurch angeregt werden zu Aufmerksamkeit und politischem Engagement. Denn in jedem Politthriller geht es zuallererst um die Bedrohung der Rechte eines Individuums als Bürger.
Autor/in: Herbert Heinzelmann, 11.12.2006