Weil Ailo, das jüngste Mitglied einer der letzten frei umherziehenden Rentierherden im
Norden Lapplands, etwas zu früh auf die Welt kommt, verlieren das Jungtier und seine Mutter den Anschluss an die Schutz bietende Herde. Nach seiner Geburt muss Ailo schnell lernen, in der Wildnis zurecht zu kommen, denn neben der eisigen Witterung bedrohen auch Fressfeinde wie Schnee-Eulen und Wölfe das Tier. Nachdem Ailo und seine Mutter eine Weile allein unterwegs sind, schließen sie zur Herde auf und nehmen an der alljährlichen Rentierwanderung durch lappländische Fjorde und Flüsse und über hohe Berge teil. Neben den arttypischen Verhaltensweisen der Rentiere, darunter die Paarungsduelle der Hirsche, werden einige andere Tierarten wie Hermeline, Lemminge, Eichhörnchen, Vielfraß, Bären, Raben und ein Polarfuchs vorgestellt, so dass der Film einen guten Einblick in das lappländische Ökosystem bietet.
Das Team um Regisseur Guillaume Maidatchevsky zeigt das Leben der Rentierherde im Wechsel der Jahreszeiten. Der von Anke Engelke mit viel Fingerspitzengefühl eingesprochene Erklärtext liefert viele sachliche Hintergründe und rückt den dokumentarischen Stoff bisweilen in die Nähe eines Märchens, was bereits der Eröffnungssatz verdeutlicht: "Das ist die Geschichte von Ailo, wie er geboren wurde, wie er lebte und wie er geliebt wurde." Technisch liefert der Film schöne Aufnahmen der ursprünglichen Landschaft und für einen Dokumentarfilm ungewöhnliche Overshoulder-Perspektiven aus Sicht der Tiere, die von einem mal majestätischen, mal heiteren oder bedrohlichen
Score untermalt sind. Heraus gekommen ist eine unterhaltsame und informative Parabel über das Leben (und Sterben) in der wilden Natur, die eindrückliche Bilder wie zwei im Fluss eingefrorene Renhirsche beinhaltet.
Ailos Reise, Szene (© NFP marketing & distribution*)
Zunächst kann der Film ein Gespräch über die Lebensweise der Rentiere anregen. Was erlebt Ailo in seiner frühen Lebensphase, welchen Gefahren steht er gegenüber und wie funktioniert das Zusammenleben der Herde? Darüber hinaus kann der Film eine Unterrichtseinheit zur Machart dokumentarischer Erzählformen anregen. So erzeugt die
Montage von Laurence Buchmann Spannung, indem sie etwa beim Angriff einer Schnee-Eule eine Situation herstellt, die so vermutlich gar nicht stattgefunden hat, aber den Verhaltensweisen der Tiere entspricht. Im gleichen Atemzug kann die durch die Erzählerinnenstimme unterstützte märchenhafte Note besprochen werden, die die Tiere jedoch nicht zu sehr vermenschlicht. Eine wichtige Rolle spielen hier auch die Wölfe, die lang vor ihrem ersten Angriff als Gefahr etabliert werden. Eine
Szene, in der die Rentiere nachts auf eine monströse Abholzmaschine treffen, kann eine Diskussion über die Folgen menschlicher Eingriffe in das Ökosystem anstoßen.
Dieser Text ist eine Übernahme des
VISION KINO-FilmTipps.
Autor/in: Christian Horn, 06.02.2019, Vision Kino 2019.
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