Dreimal muss Hans Hoffmann nach Kriegsende in der BRD eine Gefängnisstrafe antreten. Jedes Mal steht "§ 175" an seiner Zellentür. Jeder Wärter, jeder Mitgefangene kennt deshalb den Haftgrund: Hans ist schwul. Vom KZ wird er von den Alliierten 1945 direkt ins deutsche Gefängnis überführt. 1957 sitzt er als Wiederholungstäter. 1968, ein Jahr, bevor schwuler Sex zwischen Erwachsenen entkriminalisiert wird, wird er erneut verhaftet, nachdem Polizisten ihn in einer öffentlichen Toilette beim Sex mit Männern gefilmt haben. Jedes Mal trifft er im Gefängnis auf den wegen Mordes verurteilten Viktor. Ihre Beziehung verändert sich im Laufe der Jahre. Zunächst lehnt der homophobe Viktor seinen neuen Zellennachbarn ab, beim zweiten Mal begegnen sie sich bereits mit Respekt. Viktor tröstet Hans über den Tod von dessen Partner hinweg, der im Gefängnis Selbstmord begangen hat, Hans unterstützt den drogenkranken Viktor beim kalten Entzug. Schließlich ist für Hans die "große Freiheit" in greifbarer Nähe – aber zum Preis des Abschieds von seinem Freund.
Dass mindestens 50.000 Männer in der BRD auf der Grundlage des im Nationalsozialismus verschärften und erst ab 1969 schrittweise gelockerten Paragrafen 175 verurteilt wurden, gilt heute als politischer Skandal. Der österreichische Regisseur Sebastian Meise hat sein exemplarisches Drama allerdings nicht als politische Anklage, sondern als intimes
Kammerspiel angelegt, das bis auf die letzten zehn Minuten nie das karge
Gefängnis-Setting verlässt. Die
Farben sind entsättigt, die Nebenfiguren kaum individualisiert, die Gefängnisarchitektur gibt eine starre Kadrierung vor. Die staatliche Gewalt, die Hans widerfährt, äußert sich so nicht in sadistischen Handlungen oder ausformulierten zwischenmenschlichen Konflikten, sondern wird als systemisch kalt gegenüber den Gefühlen der Hauptfiguren deutlich gemacht. Geschickt springt der Film in den Momenten, in denen Hans in einer dunklen Isolierzelle sitzt, zwischen seinen drei Zeitebenen und deutet damit an, dass das Gefängnis unbeeinflusst von den gesellschaftlichen Modernisierungsbewegungen bleibt. Den Fokus der
Inszenierung nimmt die subtil gespielte und mit wenigen Bildmotiven anschaulich erzählte Beziehung zwischen Hans und Viktor ein, die in ihrer Fluidität und ihrem leisen Humor ein Wärmezentrum bildet und von der Resilienz menschlicher Freiheitsvorstellungen erzählt. Obwohl der Film historisch genau situiert ist, rückt er sein Thema des staatlichen Eingriffs in die individuellen Freiheiten durch die Abstraktion des Ortes und die Konkretion der Beziehung sehr nah an die Gegenwart heran.
Große Freiheit, Trailer (© Piffl Medien)
Genau hier liegt auch ein möglicher Einstieg für Filmanalysen im Rahmen des Oberstufenunterrichts: Wie werden in
Große Freiheit die gefühlskalten Rahmenbedingungen sichtbar gemacht und wie wird strukturelle Gewalt im Film vermittelt? Dazu könnte man Foucaults Begriff des Panoptismus recherchieren und diskutieren, wie permanente Überwachung zur Internalisierung von Machtbeziehungen führt. Wie wird auf der anderen Seite die Beziehung zwischen Hans und Viktor inszeniert, die sich trotz allem kleine Freiheiten verschafft? Für den Geschichtsunterricht bietet sich eine Untersuchung der Kontinuität von nationalsozialistischen Familien- und Sexualitätskonzepten an: Was bedeutete es, dass die Verschärfung des Paragrafen 175 in der BRD nicht zurückgenommen wurde, Liebesbeziehungen kriminalisiert und Männer in dauernder Angst vor Erpressung, Verhaftung, Berufsverboten und gesellschaftlicher Ächtung leben mussten? Vergleichend kann in diesem Zusammenhang auch die Situation in der DDR untersucht werden.
Arbeitsblatt zum Film Große Freiheit
Fächer: Geschichte, Politik, Sozialkunde, Deutsch ab Oberstufe, ab 16 Jahren
Vor der Filmsichtung:
a) Tauschen Sie sich im Plenum darüber aus, welche Straftaten heutzutage in Deutschland Freiheitsstrafen – auch Haftstrafen genannt – nach sich ziehen können.
b) Diskutieren Sie, welchen Zweck Freiheitsstrafen in der Gesellschaft verfolgen.
c) Lesen Sie arbeitsteilig die Kommentare
Alternativlose Institution und
Spaltende Anstalten. Halten Sie die wichtigsten Argumente stichpunktartig fest. Stellen Sie die jeweiligen Positionen einander im Plenum vor.
d) Sehen Sie sich den
Trailer des Films
Große Freiheit an. Finden Sie Attribute, die die Atmosphäre im Gefängnis beschreiben.
e) Sehen Sie sich den Trailer noch einmal an. Analysieren Sie mögliche Gründe für die wiederholte Inhaftierung des Protagonisten Hans Hoffmann. Gehen Sie dabei insbesondere auf
Montage,
Bildkomposition,
Farb- und Lichtgestaltung sowie die
Musik ein.
f) Formulieren Sie Vermutungen zur Wahl des Filmtitels
Große Freiheit.
Während der Filmsichtung:
g) Der Film beginnt im Jahr 1968. Analysieren Sie in der etwa vierminütigen Anfangssequenz die Mimik und Gestik der Männer. Achten Sie anschließend darauf, inwieweit sich ihre Ergebnisse aus den Arbeitsschritten d) und e) widerspiegeln.
Nach der Filmsichtung:
h) Tauschen Sie sich im Plenum darüber aus, was Sie besonders berührt und/oder überrascht hat.
i) Stellen Sie Ihre Ergebnisse zur Anfangssequenz vor. Erläutern Sie die Funktion der versteckten Kamera. Vergleichen Sie danach ihre weiteren Beobachtungen der Aufgabe g).
j) Inwieweit würden Sie Ihre Vermutungen zur Wahl des Filmtitels modifizieren?
k) Erklären Sie die Bedeutung des Paragrafen 175, der bereits in der
Exposition eingeblendet wird. Stellen Sie dar, mit welchen filmästhetischen und erzählerischen Mitteln Drehbuchautor und Regisseur Sebastian Meise eine Verbindung zum Nationalsozialismus zieht.
l) Recherchieren Sie arbeitsteilig Hintergründe zum Paragrafen 175. Stellen Sie ihre Ergebnisse in einer Präsentation dar. Gehen Sie unter anderem auf folgende Aspekte ein:
• der Paragraf 175 in der Zeit des Nationalsozialismus
• die Anwendung in der BRD
• vergleichbare Gesetze und ihre Anwendung in der DDR
• Zahl der inhaftierten Männer in der DDR
• Ende der Strafbarkeit für Homosexualität
• Rehabilitierung der vom Paragrafen 175 betroffenen Männer
• rechtliche Situation homosexueller Menschen in Deutschland heutzutage
Nutzen Sie folgende Webseiten als Ausgangspunkt Ihrer Recherche:
bpb.de: 1994: Homosexualität nicht mehr strafbar
bpb.de: Schwule und Lesben in der DDR
bpb.de: Homosexuelle und die Bundesrepublik Deutschland
bpb.de: Regenbogenfamilien in Deutschland
m) Geben Sie einander kriterienorientiertes Feedback.
Autor/in: Jan Künemund (Filmbesprechung); Ronald-Ehlert-Klein (Arbeitsblatt), 17.11.2021
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