Am Anfang steht eine Beerdigung, am Ende eine Versöhnung. Dazwischen gibt es zahlreiche Lügen und Geheimnisse. So könnte man den Inhalt von Mike Leighs Film
Lügen und Geheimnisse vereinfacht zusammenfassen. Einfach erscheint die Geschichte allerdings nur auf den ersten, oberflächlichen Blick, denn dem renommierten britischen Regisseur geht es um viel mehr: Anhand einfacher familiärer Konstellationen verdeutlicht er die Komplexität menschlicher Beziehungen jenseits des äußeren Anscheins und stellt fundamentale Fragen wie: Wie wollen wir sein? Wie sehen uns andere? "
Lügen und Geheimnisse", sagt Leigh, "handelt von Herkunft und Identität, von dem ewigen Wandel der Vorstellungen, die wir von uns selbst und den anderen haben, und von unserem zwanghaften Bestätigungsbedürfnis, wer und was wir sind und woher wir kommen."
Nach dem Tod ihrer Adoptivmutter will die junge schwarze Optikerin Hortense herausfinden, wer ihre leibliche Mutter ist. Aus den Unterlagen der Sozialbehörde erfährt sie zu ihrer Verblüffung, dass diese weiß ist. Die unverheiratet gebliebene Fabrikarbeiterin Cynthia lebt zusammen mit ihrer Tochter Roxanne, mit der sie sich mehr schlecht als recht versteht, in einem heruntergekommenen Reihenhaus in London. Als Hortense mit ihrer Mutter Kontakt aufnimmt, blockt diese zunächst ab, erklärt sich aber schließlich zu einem Treffen bereit. Nach und nach kommen sich beide näher. Allerdings verschweigt Cynthia zunächst die verdrängte Existenz von Hortense gegenüber ihren Angehörigen. Zu einer Familienfeier bringt sie aber zur Überraschung aller eine angebliche Arbeitskollegin mit: Hortense. Cynthia gesteht bei der Party ihren einstigen 'Fehltritt' und löst damit in der Familie eine Krise aus, die sich letztlich als heilsam erweist.
Im Mittelpunkt des einfühlsam inszenierten Beziehungsdramas stehen zwei Problemfelder: die Frage nach Herkunft und Identität sowie das Problem der Kommunikationsstörung im Familienverband. Die für Hortense beunruhigend gewordene Frage nach ihrer Abstammung und damit ihrer Persönlichkeit bereitet Leigh in einem parallel angeordneten Erzählstrang vor: Der erfolgreiche Fotograf Maurice bannt in seinem Studio etliche Einzelpersonen und Paare auf Zelluloid, die dabei zuweilen unfreiwillig aus der Rolle fallen oder Fassaden aufbauen. Wie die Mitglieder von Cynthias Familie verbergen sie mehr oder weniger bewusst einen Teil ihrer Persönlichkeit, möchten von den anderen nur in einem bestimmten Licht gesehen werden, alles andere wird ausgeblendet. Im Verlauf der Entdeckungsreise ins Innere dieser Familie lernen alle Beteiligten etwas über sich und die anderen hinzu – vor allem zu sich selbst zu stehen, sich auch der eigenen Vergangenheit zu stellen und die Angehörigen nicht als potenzielle Gegner, sondern als Freunde zu sehen, denen man sich mitteilen kann und sollte. Als Cynthia gesteht, dass sie als 15-Jährige unfreiwillig schwanger und von der Familie verstoßen wurde, können auch Maurice und seine Frau ihr peinigendes Geheimnis nicht länger verbergen: Monica würde gerne ein Kind haben, ist aber unfruchtbar. Einer Kettenreaktion gleich sehen sich auch alle anderen Teilnehmer der Geburtstagsparty durch Cynthias Enthüllung und durch das überraschend hinzugekommene neue Familienmitglied Hortense in ihrem bisherigen Rollenverständnis und damit in Teilen ihrer Identität in Frage gestellt. Am heftigsten reagiert Roxanne. Da sie offensichtlich nicht mehr die einzige Tochter ist, lehnt sie die – noch dazu – schwarze Halbschwester zunächst entschieden ab und flieht aus dem Haus. Doch Maurice und ihr Freund Paul können sie besänftigen und zurückholen. Endlich werden die Gespräche geführt, die schon vor Jahren hätten geführt werden sollen. Wenn Mutter und Töchter am Ende gemeinsam gemütlich Tee trinken, bringt das Leighs Plädoyer für Offenheit und einen vertrauensvollen Austausch szenisch noch einmal auf den Punkt.
Trotz der Geduld erfordenden Überlänge fällt es Leigh nicht schwer, die Zuschauer für den Film und seine Figuren einzunehmen. Zum einen baut er geschickt retardierende Momente und Nebenhandlungen ein, wie zum Beispiel jenen Mann, dem Maurice den Foto-Laden abgekauft hat und der als gescheiterte Existenz aus Australien zurückkehrt ist. Zum anderen unterstützt der Kameramann Dick Pope die bedächtige Erzählweise geschickt mit gelegentlichen Großaufnahmen und langen Einstellungen. So zeigt die Kamera das erste Treffen von Hortense und Cynthia in einem schäbigen Café in einer starren Einstellung und fordert auf diese Weise die Zuschauer zum konzentrierten Zusehen und Zuhören heraus. Indem Leigh auf die übliche Schnittfolge von Schuss/Gegenschuss verzichtet, unterbindet er zugleich jede visuelle Ablenkung. Am stärksten trägt jedoch die überzeugende Leistung der Darsteller zur Intensität des tragikomischen Familiendramas bei. Herausragend spielt vor allem Brenda Blethyn, die (in der Originalfassung!) bis in Einzelheiten des Tonfalls hinein den typischen Slang der englischen Arbeiterklasse beherrscht. Beim diesjährigen Filmfestival von Cannes wurde sie als beste Darstellerin ausgezeichnet, während der Film die 'Goldene Palme' erhielt.
Autor/in: Reinhard Kleber, 01.09.1996