In aktuellen Diskussionen über Europa dreht sich meist alles um die Fragen nach einer europäischen Verfassung oder einer europäischen Identität. Der polnische Regisseur Stanislaw Mucha hat sich stattdessen auf die Suche nach dem "Bauchnabel" des Kontinents begeben, nach Europas geografischer Mitte: kein leichtes Unterfangen, denn seit den ersten Vermessungen Ende des 19. Jahrhunderts forschen ganze Generationen danach. Mittlerweile reklamieren rund ein Dutzend Orte in Deutschland, Österreich, Polen, Litauen, der Slowakei und der Ukraine für sich, das "Zentrum Europas" zu sein. Die filmische Odyssee beginnt im hessischen Kölbe, wo ein stolzer Einwohner einen Gartenzwerg mit Europa-Flagge präsentiert. Im österreichischen Braunau, dem Geburtsort Adolf Hitlers, stößt Mucha neben sensationslüsternen japanischen Touristen auch auf einen Gasthof mit dem Namen "Mittelpunkt Europas". Hier soll einst Napoleon "seine Mitte" gefunden haben. Einige hundert Kilometer weiter östlich, im slowakischen Krahule, amüsiert sich ein Passant über ein von den Anwohnern aufgestelltes Plakat, auf dem geschrieben steht: "In die Europäische Union, aber nicht mit nackten Ärschen". – Wie schon in seinem Dokumentarfilm Absolut Warhola , als Stanislaw Mucha im slowakischen Hinterland nach Andy Warhols Vorfahren forschte, geht auch Die Mitte skurrilen Irrtümern und aberwitzigen Selbstbehauptungen auf den Grund. Je tiefer sich dabei der Regisseur samt Kamerateam im Osten verliert, desto spannender wird der Blick auf das so genannte Kerneuropa. Im litauischen "Europos Centro" etwa, unweit von Vilnius, beschimpft eine Familie Europa als "Scheusal" und wünscht sich die Sowjetunion zurück. Im ukrainischen Rachiv, das im Jahr 1887 zur Mitte Europas erklärt wurde, trägt ein alter Mann jiddische Lieder vor, während nachts die Jugend aus Tschernobyl zu Perestroika-Songs rockt. Angesichts dieser außergewöhnlichen zwischenmenschlichen Begegnungen ist das ursprüngliche Ziel der Reise längst vergessen und am Ende verliert sich die Kamera in den slowakischen Wäldern. Um so deutlicher zeigt der Film aber, dass an ein erweitertes Europa sehr unterschiedliche Erwartungen und Hoffnungen geknüpft werden.
Autor/in: Claudia Hennen, 01.05.2004