Der Begriff "en garde" stammt aus dem Fechtsport und bezeichnet den Beginn des Kampfes, bei dem sich die Gegner aufstellen. Fechten ist das Leitmotiv dieses Coming-of-Age-Films, der eine zentrale Frage im Selbstfindungsprozess Heranwachsender thematisiert: Wer teilt im Leben Hiebe aus und wer muss sie einstecken? Es scheint, als sei die 16-jährige Alice von vorneherein auf der Seite der Verlierer. Als Kind einer Minderjährigen wächst sie bei der Großmutter auf und wird nach deren Tod ins Heim abgeschoben. Intrigante Zimmergenossinnen machen ihr dort das Leben zur Hölle, außerdem leidet sie unter hypersensiblem Hörvermögen. Nur das kurdische Mädchen Berivan, ein verwaistes Flüchtlingskind, das im Heim auf den positiven Bescheid ihres Asylantrags wartet, gewinnt nach und nach ihr Vertrauen. Als die beiden Mädchen zusammen einen Fechtkurs besuchen, vertieft sich die Freundschaft. Mit der wachsenden Zuneigung wächst die Angst bei Alice, die Freundin zu verlieren und sie reagiert ihr gegenüber mit Drohungen und Aggressionen, bis die Situation schließlich eskaliert. – Die aus der Türkei stammende Hamburger Regisseurin Ayse Polat greift in En garde typische Topoi von Mädcheninternats-Filmen auf: Schikanen gegenüber den Schwächeren, das Übertreten von Regeln und Tabus, frustrierte Erzieher/innen. Sie stellt dabei jedoch die ergreifende Geschichte einer Selbstbefreiung in den Vordergrund, denn der Kampf von Alice ist vor allem ein Kampf gegen sich selbst. Das introvertierte Mädchen fühlt sich in ihrer Haut nicht wohl und nur in der Begegnung mit dem Fremden, überzeugend verkörpert durch die Kurdin Berivan, lernt sie schließlich, sich selbst anzunehmen. Trotz der sozialen Problematik hat Ayse Polat keinen tristen "Heimfilm" gedreht und anstelle eines dokumentarisch-realistischen Stils auf eine expressive Bildsprache gesetzt. Eine verstörende Metapher für den Abnabelungsprozess ist etwa die Szene, in der sich Alice die von der Mutter aufgeklebten künstlichen Fingernägel von den Fingerkuppen löst. Ergreifend auch das Bild, als sie gegen Ende des Films mit einem Hirschgeweih, dem einzigen Erbstück ihrer Großmutter, durch die Straßen Hamburgs irrt. Für ihre Leistung haben die Regisseurin sowie die beiden Hauptdarstellerinnen zu Recht den Silbernen Leoparden auf dem Filmfestival in Locarno 2004 erhalten.
Autor/in: Claudia Hennen, 01.12.2004