Paradies: Hoffnung ist der dritte Teil einer Trilogie von Ulrich Seidl. Nachdem es in
Paradies: Liebe um Sextourismus und in
Paradies: Glaube um katholischen Fanatismus ging, handelt Teil 3 von der Sehnsucht nach Liebe. Die 13-jährige Melanie ist hübsch und übergewichtig. Während ihre Mutter Teresa in den Kenia-Urlaub fliegt und ihre Tante Anna Maria in christlicher Mission unterwegs ist, verbringt sie die Sommerferien in einem Diätcamp. Dort sollen ein unerbittlicher Sportlehrer und eine Ernährungsberatern ihr und anderen dicken Kinder aus zumeist dysfunktionalen Vorstadtfamilien beim Abnehmen helfen. Doch Melanie verliebt sich in einen 40 Jahre älteren Arzt, der ihre Avancen nicht übersieht.
Wie
schon in früheren Filmen verzichtete der österreichische Regisseur Ulrich Seidl weitgehend auf ein vollständig ausgearbeitetes Drehbuch und ließ Laiendarsteller/innen und professionelle Schauspieler/innen nach ausgiebigen Vorgesprächen improvisieren. Dies führt gerade bei den jugendlichen Figuren zu lebensecht wirkenden Dialogen und einem natürlichen Spiel. Auch Seidls Vorliebe für
lange Einstellungen, stilisierte
Tableaux, die
Zentralperspektive – etwa bei den Gänsemarschchoreographien in der Turnhalle - und sarkastischen Beschreibungen menschlicher Abgründe finden sich hier wieder. In der "Lolita"-Konstellation zwischen Melanie und dem sie behandelnden Arzt weist er dem pubertierenden Mädchen, das im Drehbuch sogar Lolita hieß und aus deren Perspektive der Film erzählt wird, einen aktiven Part zu. Indem der namenlose Arzt die Annäherungsversuche des Mädchens nicht eindeutig zurückweist, manövriert er sich in eine moralisch ambivalente Position, in der er zwischen sexueller Anziehung und Schuldbewusstsein, drohender Normverletzung und Selbstdisziplinierung schwankt.
Der Film enthält vielfältige Anknüpfungspunkte zur Diskussion über die Folgen einseitiger Ernährung, aber auch eines Schönheitsideals, die zu Minderwertigkeitsgefühlen und Ausgrenzung führen können. Bei Kissenschlachten in ihren Zimmern und bei nächtlichen Kühlschrankplünderungen zeigt sich der wachsender Widerstand der Mädchen: In diesen Szenen wird die Solidarität und die subversive Kraft spürbar, die ihnen hilft, die radikale Durchsetzung normierter Körperbilder zu unterlaufen. Trotz schmerzlicher Erfahrungen finden sie im Zusammenhalt Hoffnung auf ein selbstbestimmtes Leben. Vor dem Hintergrund der anhaltenden Diskussion über Kindesmissbrauch durch erwachsene Erziehungspersonen gibt die heikle erotische Annäherung zwischen der Minderjährigen und dem Arzt genügend Anstöße zu einer kritischen Auseinandersetzung mit dem Themenkreis erste Liebe, erwachende Sexualität und Pädophilie. In den Fächern Religion und Ethik bietet es sich an zu fragen, worin die titelgebende Hoffnung liegt und in welchem Spannungsverhältnis Paradies und Sündenfall im Film stehen.
Autor/in: Reinhard Kleber, 12.05.2013
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