Ein relativ normaler Alltag in
Kabul jenseits von Gewalt – das erscheint kaum vorstellbar angesichts der Nachrichten voller Terror, die uns normalerweise aus Afghanistan erreichen. Regisseur Aboozar Amini, selbst in Afghanistan geboren und als Jugendlicher in die Niederlande ausgewandert, ermöglicht in seinem 2018 gedrehten Dokumentarfilm diese andere Perspektive aus einer Zeit, die inzwischen schon wieder Vergangenheit ist. Er begleitet drei Menschen, den Busfahrer Abas sowie den Teenager Afshin und seinen kleinen Bruder Benjamin bei ihrer Arbeit und ihren täglichen Wegen in der Millionenstadt Kabul. Der Vater der beiden Jungen, ein Ex-Soldat, fürchtet um sein Leben und muss das Land verlassen. Der Film selbst zeigt zwar keine Gewalthandlungen, aber Bedrohung und Angst sind allgegenwärtig in den sichtbaren Zerstörungen und in den Gesprächen der Menschen.
Regisseur Aboozar Amini begleitet seine Protagonisten selbst mit der Handkamera zu Hause, an ihrer Arbeitsstätte, zum Einkaufen oder beim Gang zu einer Gedenkstätte. Er nimmt sich Zeit, die Filmbilder wirken einfach und direkt: mal in
Großaufnahme den Gesichtern Raum gebend, mal aus der Distanz, um nicht zu stören. Der Film funktioniert ohne Off-Kommentar und zusätzliche akustische Effekte wie
Musik – einzig der Gesang der Menschen erklingt, weil zum Geschehen gehörend und die Atmosphäre mittragend. Die Erzählungen und Handlungen erzeugen keine "exotische Atmosphäre", sondern das Gefühl des Dabeiseins und sorgen für ein echtes Verständnis: für Abas, der ums finanzielle Überleben seiner Familie kämpft und wegen seiner Misserfolge den Drogen nicht widerstehen kann, oder für Afshin, der eigentlich noch zu jung und verspielt ist für die Verantwortung, die er als Familienoberhaupt tragen soll.
Insbesondere die beiden jungen Protagonisten Afshin und Benjamin ermöglichen durch ihr Alter einen direkten Bezug für Schüler/-innen: Wie verhalten sich die Brüder untereinander und welche Aufgabe hat der Älteste? Was bedeutet es, als Teenager wie ein Erwachsener handeln zu müssen? Was ist mit ihrer Familie und insbesondere mit ihrem Vater? Wovor haben die Brüder, die Menschen Angst? Allgemein kann diskutiert werden, was den Alltag der Menschen in Kabul von unserem Alltag in Deutschland unterscheidet und welche Gemeinsamkeiten es gibt. Wie werden Tod und Sterben gezeigt oder thematisiert? Wie zeigt der Film die Hauptfiguren, wie nähert sich die Kamera ihnen an? Zudem fehlt im Film die Perspektive einer Frau beziehungsweise eines Mädchens als Protagonistin. Warum ist das so und welche Bedeutung hat das für den Film und seine inhaltlichen Aussagen?
Dieser Text ist eine Übernahme des
VISION KINO-FilmTipps.
Autor/in: Dr. Olaf Selg, 02.11.2021, Vision Kino 2021.
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