Neno, Saniye, Hêvîn: Drei Kurdinnen aus drei Generationen, die in Berlin leben und jeweils eigene Positionen zu ihrer kurdischen Identität beziehen. In ihrem Dokumentarfilm
Köy (kurdisch für "Dorf") porträtiert Serpil Turhan die Ansichten der Frauen in langen
Gesprächen. Neno, die Großmutter der Regisseurin, stammt aus einem ostanatolischen Bergdorf und kam Mitte der 1970er-Jahre als Frau eines sogenannten Gastarbeiters nach Deutschland. Saniye wurde 1974 in einem Dorf in der Osttürkei geboren und immigrierte als Einjährige mit ihrer Familie nach Berlin, wo sie heute ein Kiez-Café betreibt. Hêvîn schließlich kam 1996 in Berlin-Kreuzberg zur Welt und will ihren Aktivismus für die kurdische Minderheit als politische Schauspielerin fortführen. Die Perspektiven der Frauen skizzieren ihre unterschiedliche Sozialisation und verweisen zugleich auf Allgemeingültiges.
Drei Jahre lang begleitete die Filmemacherin Serpil Turhan Verwandte und Bekannte in ihrem Alltag. Dabei sind offene Gesprächssituationen im privaten Umfeld der Protagonistinnen entstanden, bei denen die fragende Regisseurin selbst zur weiteren Akteurin aus dem Kamera-Off avanciert. Schlichte Aufnahmen zeigen Impressionen aus dem alltäglichen Leben der Frauen, wenn Neno Essen zubereitet oder Hêvîn durch die Straßen rund um das Kottbusser Tor in Berlin-Kreuzberg flaniert. Die Charaktere und Meinungen der Frauen erschließen sich über ihre Aussagen in den Gesprächen, die Turhan per
Jumpcuts verdichtet und die insbesondere um politische Themen wie den Kurdenkonflikt kreisen. Persönliche Regale oder gerahmte Familienfotos aus den Wohnungen der Frauen grundieren die biografischen Erzählungen.
Das Kernthema des Films ist die kulturelle Identität der nach Deutschland immigrierten oder dort geborenen Protagonistinnen. Wie beschreiben Neno, Saniye und Hêvîn ihr "Kurdisch-Sein" zwischen zwei Welten oder die unbestimmte Sehnsucht nach der Heimat? "Wir sind keine Türken, wir sind Kurden", erfuhr die ursprünglich Zûrê genannte Saniye als Jugendliche von ihrem Bruder – erst dann entdeckte sie ihre kurdischen Wurzeln. Eine zentrale Rolle spielen die politischen Implikationen des Kurdenkonflikts, bei dem sich Hêvîn als Teil der Opposition sieht. Ein weiteres Thema sind die Unterschiede zwischen traditionellen Rollenbildern in der kurdischen Provinz und der westlichen Lebensweise. Die als 13-Jährige zwangsverheiratete Neno brachte elf Kinder zur Welt, Saniye durfte als 12-Jährige plötzlich nicht mehr draußen spielen. Wie prägen solche Zwänge und deren Überwindung die Biografien? Auf der filmischen Ebene bilden die Stimmungsbilder eines kurdischen Dorfs, mit denen der Film beginnt, einen Kontrast zur Berliner Großstadtszenerie. Nonverbale Informationen liefern auch die Eindrücke aus den Wohnungen der Frauen, die Schlaglichter auf deren Leben werfen. Was sagt beispielsweise die Einrichtung über die Mentalität der Protagonistinnen aus?
Dieser Text ist eine Übernahme des
VISION KINO-FilmTipps.
Autor/in: Christian Horn, 07.04.2022, Vision Kino 2022.
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