Infotainment? Meinungsmache? Bildung? – Politische Webvideoformate auf YouTube
Mit dem Aufstieg und der Verbreitung der sozialen Medien hat sich die mediale Repräsentation von Politik maßgeblich verändert. Die Präsidentschaftswahl in den Vereinigten Staaten 2008 wurde von zahlreichen Studien als richtungsweisender Umbruch für die politische Kommunikationskultur der jüngsten Gegenwart angesehen. Besonders der Wahlkampf des späteren Präsidenten Barack Obama war stark von digitalen Medien beeinflusst und in diesem Zusammenhang wurde der Begriff "Voter Generated Content" geprägt. Der Begriff bezeichnet Beiträge, die nicht offiziell den Kampagnen der Parteizentralen entstammen, sondern von Usern und Userinnen generiert werden, die der digitalen Zivilgesellschaft angehören. In der digital vernetzten Öffentlichkeit des "Voter Generated Content" werden Fotos, Slogans, Filme und Poster nicht mehr top-down von den beruflichen Zentren der politischen Wahlbewegungen kommuniziert, sondern von Medienakteuren und -akteurinnen, die als "Influencer" (von engl. to influence, beeinflussen) bezeichnet werden, da sie die Meinung in den sozialen Medien maßgeblich prägen.
Medienumbruch und neue Medienakteure
Die Ökonomisierung der sozialen Netzwerke und die Kommerzialisierung des Teilens in der sogenannten Sharing-Economy haben den Stellenwert und den Umgang mit (Bewegt-)Bildern im Netz weitreichend verändert. Als "Influencer" bezeichnet man einen Medienakteur in sozialen Netzwerken, dem aufgrund seiner starken Präsenz und seines hohen Ansehens als Träger öffentlichkeitswirksamer Aufmerksamkeit gilt. Die hohe Beteiligung und das große Interesse an Webvideos in der Online-Kommunikation hat Forscher/-innen der digitalen Gesellschaft dazu veranlasst, von einer neuen Ära der Videokratie zu sprechen. Der Fokus der medialen Aufmerksamkeit wird nicht mehr länger nur von den Strategen und Strateginnen der Parteizentralen, sondern von der Massenpartizipation in sozialen Medien entschieden.
Politische Inhalte in sozialen Netzwerken
Mit der niedrigschwelligen Nutzung von sozialen Medien hat sich der Produktionskontext von politischen Inhalten radikal verändert. Die Herstellung und Verbreitung von politischen Inhalten hat sich von der klassischen Medienlogik eines wahlwerbenden Parteienzentrums, das von oben (Zentrale) nach unten (Wähler/-in) kommuniziert, verschoben. Mit dem breitenwirksamen Durchbruch von Facebook, YouTube, Twitter und Instagram hat sich eine neue Einflussgröße politischer Medialisierung etabliert. Gemeinsam bieten diese Plattformen ein neues Betriebssystem für Internetnutzer/-innen an und schaffen geschlossene oder halb-geschlossene Communities (sogenannte "walled gardens" nach der Medienwissenschaftlerin Anne Helmond), um zwischen Anbieterinnen und Anbietern der Netzwerkplattform und Profilinhaberinnen und Profilinhabern eine langfristige Beziehung zu stiften.
Das Phänomen der "Filterblase"
Im Unterschied zu Online-Plattformen wie Twitter und Facebook verfügt YouTube über keinen Newsfeed. Der Nachrichtenfluss wird hier mittels der Abonnentenfunktion hergestellt. Abonnenten werden User genannt, die einen YouTube-Channel als Favoriten markiert haben und auf die aktuellen Videos dieser Kanäle aufmerksam gemacht werden. Abonnenten und Abonnentinnen stellen das soziale Kapital eines YouTube-Channels dar, denn sie sehen sich auf YouTube oftmals noch mehr Videos eines Beiträgers an. Diese Medienlogik etabliert eine nachhaltige Verbindung zwischen dem Star und seinen Fans und erzeugt Phänomene wie die "Echo-Kammer" oder die "Filter Bubble" (dt. Filterblase). Der Begriff "Filter Bubble" wurde 2011 vom Internetaktivisten Eli Pariser geprägt und beschreibt die Problematik, dass Plattform-User oft eine sehr begrenzte Anzahl von Inhalten beziehen, die durch die Anwendung von Daten-Algorithmen für den einzelnen User personalisiert werden. Dieses Phänomen kann zu einer gefilterten und stark selektiven Wahrnehmung politischer Diskurse führen.
Medienunternehmen entdecken YouTube
Der internationale Trend, mit Videoblogs politische Themen zu kommunizieren, hat sich auch in Deutschland etabliert. Mittlerweile gibt es eine Vielzahl von nachfragestarken Medienakteuren und -akteurinnnen, die über große Fangemeinschaften verfügen und eine breit gestreute Medienaufmerksamkeit aufweisen. Die politischen Webvideoformate auf YouTube haben sich mittlerweile ausdifferenziert. Neben einzelnen Vloggern, die (anfänglich) aus privater Initiative ihre Inhalte hochgeladen haben, treten in letzter Zeit zusätzliche Vermittler wie das Medienunternehmen Mediakraft Networks mit Sitz in Köln auf, das Online-TV-Inhalte produziert und vermarktet. Mediakraft ist das größte deutsche Multi-Channel-Netzwerk und für die breite Wahrnehmung politischer Videoblogs maßgeblich verantwortlich. LeFloid, der prominenteste Polit-Vlogger Deutschlands, hat von Mediakraft Reichweitenvergrößerung, Produktion, Vermarktung und technische Unterstützung erhalten und mehr als drei Millionen Abonnenten und Abonnentinnen aufgebaut. Aber auch andere politische Stimmen, die heute über eine große Aufmerksamkeit verfügen, wurden von Mediakraft professionell aufgebaut, etwa der Nachrichtenkanal "Was geht ab?", der aktuell über 260.000 Abonnenten und Abonnentinnen aufweist.
Ökonomisierung des Politischen
Das Unternehmensleitbild von Mediakraft Networks betont den strategischen Wert von Online-Videos für die politische Bildung jugendlicher Zielgruppen: "Für die junge Zielgruppe der 14- bis 34-Jährigen ist das Programm von Mediakraft Networks und seinen Künstlern bereits die wichtigste Quelle für Unterhaltung und Information. Online-Video ist auf dem Weg, das führende Medium unserer Zeit zu werden.“ Die zunehmende Kommerzialisierung der Inhalte auf YouTube zeigt, dass eine Reihe von Faktoren darüber entscheiden, ob politische Inhalte überhaupt die Wahrnehmungsschwelle des Internet-Publikums überschreiten. In ihrer Studie "Participatory Politics" (2011) haben die Autoren Cathy Cohen und Joseph Kahne herausgearbeitet, dass Aufmerksamkeit über die mediale Inszenierung von Glaubwürdigkeit hergestellt wird. Um politische Inhalte glaubwürdig kommunizieren zu können, müssen sie weitgehend personalisiert werden.
Schauwerte des Politischen
Relevante Aufmerksamkeitsträger von politischen Webvideoformaten sind Glaubwürdigkeit und Unterhaltungswert der Protagonisten und Protagonistinnen – von diesen Faktoren hängt die Reichweite der politischen Vlogs ab. Die typische YouTube-Ästhetik der direkten Adressierung durch einen Talking Head hat sich zu einer formelhaften Inszenierungsregel entwickelt, die zum verbindlichen Maßstab für eine erfolgreiche Kommunikation geworden ist. Politische Inhalte werden an bildästhetische Normen (Personalisierung, Face-to-face-Kommunikation), narrative Stile (subjektiv-lebensweltlicher Diskurs), genreübergreifende Wiedererkennungsmerkmale (Boulevard-Thematik, Comedy-Formate) und dramaturgisches Set-Design (Home Video-Optik) angepasst, um sie reichweitenstark verbreiten zu können. So bedienen sich auch vergleichbare Kanäle mit politischen Themen im deutschsprachigen Raum wie "Jung & Naiv" (mehr als 103.000 Abonnenten) und "MrWissen2Go" (mehr als 501.000 Abonnenten) dieser Formensprache, um ihre Inhalte mit zusätzlichem Schauwert zu versehen.
Anschluss an die Sozialisation von Jugendlichen
Der gesamte Aufbau der Webvideoformate und ihrer YouTube-Kanäle kreist um die mediale Inszenierung des glaubwürdigen Subjekts, das der zentrale Träger der politischen Kommunikation ist. Mit dieser radikalen Inszenierung des Persönlichen und Intimen soll sich das Webvideo von den klassischen meinungsbildenden Medien abheben und einen "direkten" und "unmittelbaren" Anschluss an die politische Sozialisation von Jugendlichen gewährleisten. Durch die extreme Überlagerung von Produktion und Rezeption ist der Reichweitenerfolg von Online-Videos abhängig vom Feedback der Jugendlichen, welche die gezeigten Bilder mit Hilfe unterschiedlicher medialer Verfahren bewerten können. Die Transparenz der öffentlich zugänglichen Kommentarkultur schafft ein mediales Näheverhältnis zwischen Star und Fan, kann aber auch für die politische Instrumentalisierung von Online-Videos genutzt werden, wenn es darum geht, den werbestrategischen Wert von hochgeladenen Inhalten messen zu können.
Glaubwürdigkeit, Partei-Strategien und kommerzielle Interessen
Heute haben auch die Parteien und arrivierten Medienvertreter/-innen den werbepolitischen Wert von Online-Medien bei der Erschließung jugendlicher Zielgruppen erkannt und wollen sich Zugang zu den jugendlichen Kommunikationsräumen im Netz verschaffen. Vor diesem Hintergrund haben die Medienberater/-innen der deutschen Bundeskanzlerin Angela Merkel 2015 den populären Polit-Vlogger LeFloid eingeladen, ein Exklusiv-Interview mit der Kanzlerin zu führen. Für dieses Interview wurde er später von seinen Fans heftig kritisiert, weil er sich den Vorwurf gefallen lassen musste, von der Kanzlerin zu Werbezwecken instrumentalisiert worden zu sein. Diese Debatte zeigt erstens, dass Glaubwürdigkeit eine zentrale Währung für das Ansehen politischer Webinhalte darstellt. Zweitens wird deutlich, dass politische Videos auf YouTube das Image von anti-elitären Alternativmedien verkörpern, die sich identitätspolitisch (als eine Art Interessenvertretung) mit der Lebenswelt von Jugendlichen decken sollen. Oft wird aber in dieser Sichtweise ausgeblendet, dass die Verbreitung von politischen Inhalten von kommerziellen Interessen gesteuert wird (vgl. exemplarisch Mediakraft Networks), die oft auf den ersten Blick nicht erkennbar sind.
Autor/in: Dr. Ramón Reichert, Medienwissenschaftler mit dem Schwerpunkt Digitale Medienkultur und Herausgeber der Zeitschrift "Digital Culture & Society", 13.07.2017