New York im Winter 1990. Jonathan Larson hört seine innere Uhr ticken und sie wird immer lauter. In wenigen Tagen steht sein 30. Geburtstag an, doch seine Karriere als
Musical-Autor kommt nicht in Schwung. Stattdessen kellnert der junge Mann in einem Diner und zweifelt, ob er den Traum von einer Broadway-Karriere weiterhin verfolgen soll. Sein bester Freund Michael und seine Freundin Susan, die einmal Schauspieler und Tänzerin werden wollten, streben inzwischen beruflich nach Sicherheit. Jonathan hingegen werkelt seit acht Jahren am Musical
Superbia, einer poppigen Zukunftssatire für die MTV-Generation. Der Druck steigt, als eine Voraufführung des Stücks näher rückt und ein zentraler Song für den zweiten Akt fehlt.
Mit der semi-autobiografischen Solo-Show
tick, tick… BOOM! feierte der reale Komponist Jonathan Larson 1990 einen ersten kleinen Erfolg am Off-Off-Broadway. Der – in Larsons eigenen Worten – "rock monologue" dient Regisseur Lin-Manuel Miranda als stetiger Bezugspunkt seiner
Adaption. Am Anfang erzählt der von Andrew Garfield expressiv gespielte Larson auf der Bühne aus seinem Leben. Zu der in Videotape-Ästhetik gehaltenen
Rahmenszene kehrt der Regisseur immer wieder zurück, um die von Larson gesponnenen Fäden szenisch aufzugreifen. So ergibt sich eine anekdotische Erzählstruktur mit fortwährenden Selbstkommentaren, Larsons Gedanken als Voice Over oder seinen Notizen, die als
Inserts ins Bild geblendet werden. Der überspannte Kreative findet permanent Inspiration im Alltag und will "Songs über alles schreiben". Bei aller Selbstironie und humoristischen Leichtigkeit erscheint der Protagonist ambivalent, wenn sein Darstellungsdrang und sein Streben nach Erfolg nicht nur die Beziehung zu Susan belastet. Weitere Schatten wirft die AIDS-Epidemie, die in Larsons Umfeld wütet.
Lin-Manuel Miranda, der mit
Hamilton selbst einen Broadway-Hit landete, inszeniert den Stoff als intimes Musical über künstlerische Selbstzweifel. Zugleich porträtiert der mit Zitaten gespickte Film die New Yorker Theater- und Musicalwelt und ihre Boheme-Community anno 1990. Als Kontrast zur gedämpften
Farbgestaltung trägt man
Glitzer-Shirts oder Hosenträger, färbt die Haare pink und träumt vom großen Durchbruch, der meist ausbleibt. In Form eines "integrated Musical" sind die
Gesangseinlagen bruchlos in die Handlung gewoben, wobei die Wirklichkeit und deren Wahrnehmung ineinanderfließen. Die übersichtlichen Musiknummern werden oft allein oder zu zweit vorgetragen. Statt pompöser Choreografien liegt der Fokus dem biografischen Anspruch gemäß auf zwischenmenschlichen, einfallsreich umgesetzten Interaktionen zu den einprägsamen Rock- und Popsongs aus Larsons Musical
Superbia.
Schon durch das Thema und den selbstreflexiven Aufbau funktioniert der Film als Hommage an den künstlerischen Schaffensprozess, der von Larsons Zweifeln flankiert wird: Soll er einen Kompromiss eingehen oder durchhalten? Dem realen Künstler gelang der Durchbruch auf dem Broadway 1996 mit dem vielfach preisgekrönten und erfolgreichen Rock-Musical
Rent, auf das
tick, tick… BOOM! subtil anspielt. Basierend auf Giacomo Puccinis Oper
La Bohème (1896) siedelte der Komponist die Geschichte von
Rent im jungen und prekären Künstlermilieu des New Yorker East Village an, in dem unterdrückte Homosexualität, Drogen, AIDS und Rassismus alltägliche Probleme darstellen. Larson selbst hat den Erfolg seines Musicals allerdings nicht mehr miterlebt: Am Premierentag im Jahr 1996 ist er 35-jährig an einem Aneurysma verstorben.
Autor/in: Christian Horn, freier Filmjournalist in Berlin, 28.01.2022
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