Auf den ersten Blick hat die zehnjährige Wadjda sich in das schicke,
grüne Fahrrad mit den bunten Bändern am Lenker verliebt und forsch lässt sie es sich sogleich vom Händler reservieren, vor dessen Spielwarenladen es steht. Sie will Fahrrad fahren und den befreundeten Nachbarsjungen Abdullah im Wettrennen besiegen. An sich wäre das nichts Besonderes, lebte Wadjda nicht in Riad, der Hauptstadt Saudi-Arabiens, wo ein Mädchen auf einem Fahrrad bis vor kurzem noch so undenkbar war wie es eine unverschleierte Frau in der Öffentlichkeit nach wie vor ist. Erst im April 2013 wurde Frauen in Saudi-Arabien das Fahrradfahren in Erholungsgebieten, in Begleitung eines männlichen Verwandten und unter Wahrung der gesetzlichen Bekleidungsvorschriften, offiziell erlaubt. Vor diesem Hintergrund erscheint allein die Existenz jenes Films, in dem die Geschichte von Wadjda erzählt wird, geradezu als bahnbrechend innovativ, solitär und politisch: Die deutsch-saudische Koproduktion
Das Mädchen Wadjda ist nicht nur der erste, vollständig in dem arabischen Königreich gedrehte Langspielfilm, in dem Kinos seit den 1970er-Jahren verboten sind. Er wurde zudem geschrieben und realisiert von einer Frau: Haifaa Al Mansour, 1974 in Saudi-Arabien geboren, in Ägypten und Australien ausgebildet und inzwischen mit ihrer Familie in Bahrain lebend.
Kleines Mädchen, großer Wunsch
So unbeirrt wie Haifaa Al Mansour über fünf Jahre hinweg ihre Film-Idee verfolgte, so beharrlich hält auch die unangepasste Wadjda an ihrem Traum von einem Fahrrad fest und sucht nach Mitteln und Wegen, ihn zu verwirklichen. 800 Rial kostet das Rad, an Erspartem hat das Mädchen gerade mal 100 Rial. Zunächst sollen die Eltern helfen. Doch der Vater, der ohnehin nur selten Zuhause ist, hört gar nicht erst zu und die Mutter lehnt rundweg ab: "Bei uns fahren Mädchen nicht Fahrrad", so ihre Begründung. Es könnte ihre Tochter, so eine weitere Befürchtung, die Jungfräulichkeit kosten. Ohnehin hat Wadjdas Mutter eigene Sorgen: Sie kann keine Kinder – also vor allem keinen Sohn – mehr gebären und ihr Mann spielt deshalb mit dem Gedanken, eine Zweitfrau zu nehmen. Ähnlich machtlos fühlt sich Wadjdas Mutter in der Auseinandersetzung mit ihrem Fahrer, einem asiatischen Gastarbeiter, dessen Schikanierungen ihr den Weg zur Arbeit täglich zur Beschwernis machen. Denn Frauen dürfen in Saudi-Arabien selbst nicht ein Auto steuern und sind so unter anderem auf Chauffeure angewiesen.
Frauen in Saudi-Arabien
Trailer des Films (© Koch Media)
Der öffentliche Raum ist den saudischen Frauen nicht ohne Weiteres zugänglich. Im Grunde sind sie ab einem gewissen Alter, nämlich wenn sie geschlechtsreif werden und somit heiratsfähig sind, dort nicht mehr vorgesehen und der Kontakt zu Männern ist ihnen verwehrt. So zeigt die Filmemacherin Frauen auch fast nur in Wohnungen, Küchen, Frauenräumen und unter dem Ganzkörperschleier Abaya. In der saudischen Gesellschaft, das zeigt der Film deutlich, werden Frauen unsichtbar gemacht wie Wadjda, die eines Tages einen Zettel mit ihrem Namen an den männlichen Nachfahren vorbehaltenen Stammbaum ihres Vaters heftet, nur um diesen anderntags zerknüllt am Boden zu finden.
Gesellschaftskritik
Es sind Szenen wie diese, die in
Das Mädchen Wadjda en passant und ohne anklägerische Geste das ungleiche Verhältnis der Geschlechter immer wieder sichtbar werden lassen und die das Riskante, ja, die geradezu revolutionäre Dimension von Wadjdas Vorhaben nachvollziehbar machen. Ein Fahrrad mag auf den ersten Blick ein harmloser Gegenstand sein, im vorliegenden Kontext verliert er seine Unschuld und lädt sich mit einer rebellischen, aktionistischen Bedeutung auf, die über den Film hinaus ins Gesellschaftliche verweist.
Ein eigener Weg
Wadjda denkt aber einstweilen weder an den ihr mit den ersten Anzeichen der Pubertät drohenden Einschluss, noch an das "Verbotene" ihres wilden Wunsches, sich frei und selbstständig fortzubewegen. Sie denkt nur an ihr Fahrrad. Haifaa Al Mansour hat Wadjda als mutiges, neugieriges und selbstbewusstes Mädchen gezeichnet, das allein schon durch ihre Turnschuhe mit lila Schnürsenkeln für Aufsehen sorgt. Offen und ehrlich spricht Wadjda aus, was sie denkt. Unbefangen tut sie, was sie für richtig hält, und versucht, mit selbst gebastelten Armbändern, Mix-Tapes mit westlicher Musik oder Botengängen das für den Fahrradkauf nötige Geld zu verdienen. Dabei wird das Mädchen von Frau Hussa, der traditionsbewussten Direktorin der Schule, erwischt und strengstens abgemahnt. Doch unbeirrt hält Wadjda an ihrem Ziel fest und meldet sich deshalb für den Koran-Wettbewerb ihrer Schule an, der mit einem hohen Preisgeld lockt, obwohl sie sich mit Religion kaum auskennt.
Sie studiert und übt fleißig und beeindruckt damit Frau Hussa, in deren Augen sie kurzzeitig zur bekehrten Vorzeigeschülerin avanciert. Währenddessen beobachtet ihre Mutter voll Sorge ihren Mann, überwirft sich mit ihrem Fahrer und bekommt von einer Freundin mögliche neue Wege aufgezeigt. Diese selbst zu beschreiten, wagt sie zwar noch nicht, doch als sie ihrer Tochter schließlich das ersehnte Fahrrad kauft, wird deutlich, dass auch Wadjdas Mutter sich nicht mehr länger widerstandslos unterordnen wird.
In der Gesellschaft verortet
Als ihre Einflüsse nennt Haifaa Al Mansour die Filme der belgischen Filmemacher Jean-Pierre und Luc Dardenne (
Der Junge mit dem Fahrrad, Belgien, Frankreich, Italien 2011) und des Iraners Jafar Panahi (
Offside, Iran 2006), die von einer – formal wie narrativ – einfachen Struktur ausgehen, in der (willens)starke Protagonisten/innen agieren. Filme, die gerade aufgrund ihrer Schlichtheit tief in den gesellschaftlichen Handlungsort vordringen und Geschichten erzählen, die zwar erfunden sein mögen, doch von einer großen, übergeordneten Wahrheit erfüllt sind.
Das Mädchen Wadjda braucht den Vergleich mit den Werken dieser Vorbilder nicht zu scheuen. Stilistisch orientiert sich die Regisseurin an der filmischen Unmittelbarkeit des italienischen Neorealismus, findet aber immer wieder emblematische Bilder, Metaphern, die die einzelnen Handlungselemente in den Kontext des großen Ganzen stellen. Am Ende steht Wadjda mit ihrem Fahrrad an der Kreuzung einer mehrspurigen Straße (auf der lauter Männer ihre Autos fahren), und die Frage ist nicht nur, ob sie nach links oder nach rechts abbiegen wird. Sondern die Frage lautet auch: Wohin führt der Weg Saudi-Arabiens? Und wohin der der saudischen Mädchen und Frauen?
Autor/in: Alexandra Seitz, freie Journalistin und Filmkritikerin, 07.08.2013
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