Hintergrund
Landschaft und Natur im Film Belle & Sebastian
Im Mittelpunkt der Filme des französischen Regisseurs Nicolas Vanier steht die Auseinandersetzung des Menschen mit und das Leben in der Natur. Das gilt auch für seinen zweiten Spielfilm
Belle & Sebastian (Belle et Sébastien, Frankreich 2013): In dem Kinderfilm nimmt die noch weitgehend unberührte Hochgebirgslandschaft der Savoyer Alpen gewissermaßen die dritte Hauptrolle ein.
Inszenierung einer Landschaft
Dass der Schauplatz des Films einen zentralen Stellenwert einnimmt, äußert sich schon darin, dass die Dreharbeiten (zumindest beinahe) komplett
on location in den französischen Alpen stattfanden – was für die Produktion zwangsläufig erhebliche Unannehmlichkeiten und Risiken mit sich brachte. Ein Grund dafür liegt augenscheinlich in der Absicht, die Attraktivität des Films zu erhöhen. So fängt die Kamera wiederholt die Weitläufigkeit und Schönheit der alpinen Landschaft in Cinemascope-Panoramen ein – ein entscheidender Unterschied zur TV-Serie aus den 1960er-Jahren, die im alten, nahezu quadratischen Fernsehformat (und in den ersten Jahren in
Schwarz-Weiß) gefilmt wurde. Die Verlegung der Handlung in die Zeit des Zweiten Weltkriegs hatte, so Vanier im begleitenden Presseheft, zudem nicht nur dramaturgische, sondern auch ästhetisch-künstlerische Gründe. Vanier wollte in den Savoyer Alpen die einst unberührte Berglandschaft "wieder finden".
Leben in und mit der Natur
Allerdings heben die
Panoramen und Totalen, die häufig den Beginn einer Szene markieren, selten nur die reine Landschaft hervor: Meist zeigen sie die Protagonisten/innen, die angesichts der mächtigen Berge geradezu verkleinert wirken und auf den ersten Blick mitunter leicht zu übersehen sind. Die Einstellungen erfüllen so nicht nur den vorrangigen Zweck von
Establishing Shots, die die nachfolgende Handlung für das Publikum verorten. Die Größenverhältnisse vermitteln auch sofort, dass das Leben in den Bergen zwangsläufig den Gesetzen der Natur unterworfen ist. So betonen auch mehrere Szenen die Mühsal alltäglicher Arbeiten, wie etwa den kräftezehrenden Abtransport des Brennholzes aus dem steilen Bergwald. Ebenso unterstreicht die im Film nachvollzogene Abfolge der Jahreszeiten, dass die Natur den Lebensrhythmus der Savoyarden/innen prägt.
Ein Naturkind
Auffällig ist, dass nahezu alle in
Belle & Sebastian auftretenden Figuren wesentlich durch ihre Beziehung zu Tieren charakterisiert werden. Allen voran gilt das selbstverständlich für den Jungen Sebastian, der sich nicht nur durch seinen Mut als Held auszeichnet, sondern vor allem als Freund der Tiere. Vanier inszeniert ihn regelrecht als "Naturkind". In schwelgerischen
Bewegungen begleitet die Kamera den wortkargen Jungen, der übermütig wie ein junger Hund über blühende Bergwiesen tobt und sich überhaupt mit großer Selbstverständlichkeit inmitten der Wildnis bewegt. Wie bei einem Tier funktionieren die Instinkte des Kindes offensichtlich bestens. So erkennt es auf Anhieb, dass Belle keine Bedrohung, keine Bestie, darstellt. Und tatsächlich entpuppt sich der verschmutzte Hund nach einem Bad im klaren Gebirgssee als strahlendweißes Tier.
Mensch und Tier
Dass der Film die Freundschaft von Belle und Sebastian als idealisiertes Miteinander von Mensch und Natur inszeniert, zeigt sich besonders deutlich in einer von recht süßlicher
Musik untermalten Sequenz, in der beide beim Herumtollen in den Bergen zu sehen sind. Unversehens schneidet Vanier vom Spiel der Freunde auf zwei springende Gämse: eine Parallelisierung, die eine totale Harmonie zwischen dem Jungen und der Tierwelt suggeriert. Sebastian am nächsten kommt in dieser Hinsicht der kauzige Hirte César. Die Verbundenheit des Alten mit den Tieren wird dadurch demonstriert, dass er eine junge Bergziege großzieht, deren Mutter zu Beginn von Dorfbewohnern geschossen wird. Dem Jagdeifer der anderen Einheimischen steht César ablehnend gegenüber. Gleichwohl hält auch er Belle anfangs für eine Gefahr.
Moderne und Naturzerstörung
In ihrem pragmatischen Verhalten gegenüber Tieren wirken die anderen Savoyarden/innen mitunter ein wenig ignorant – aber keineswegs böswillig. Die Berechtigung ihrer Jagdzüge wird im Film als Teil des traditionellen Lebens in den Bergen nicht grundsätzlich in Frage gestellt. Ganz anders dagegen die im Dorf stationierte deutsche Besatzungsmacht: Trotz Schonzeit schießen die Soldaten auf Hirsche. Eine Barbarei, die im Film gewissermaßen stellvertretend für die grausame Jagd auf die Flüchtlinge steht, die mit Blick auf das junge Publikum zurückhaltend gezeigt wird. Der Film zeichnet die Besatzer jedoch nicht nur als gewissenlos, sie verkörpern auch die naturferne und -feindliche Moderne. So benutzen beispielsweise allein die Deutschen Autos, während sich die Einheimischen grundsätzlich zu Fuß fortbewegen. Ins Bild passt auch, dass der deutsche Offizier zum Höhepunkt des Films durch lautes Brüllen eine Lawine auslöst. Und im dramatischen Finale können die Flüchtlinge entkommen, weil die Soldaten ihnen im Schneesturm nicht folgen können. Dass der Anblick der Soldaten, die bei der Verfolgung in militärischer Formation durch den Schnee hetzen, Assoziationen an Kavallerie-Western weckt, kommt nicht von ungefähr: Der Konflikt in
Belle & Sebastian ähnelt dem vieler post-klassischen Western, die von der Konfrontation der "guten", Natur bewahrenden indianischen Kultur und der "bösen", zerstörerischen weißen Zivilisation handeln.
Natur als dramaturgischer Motor
In diesem Sinne inszeniert Vanier selbst das Finale keineswegs als heroisches Kräftemessen der Protagonisten/innen mit der Natur – im Gegensatz zu klassischen Bergfilmen, mit denen
Belle & Sebastian den alpinen Schauplatz gemein hat. Gleichwohl nutzt auch Vanier auf recht konventionelle Weise Naturereignisse für die dramatische Zuspitzung. Dass es die deutschen Soldaten sind, die in die Lawine geraten oder im Schneesturm scheitern, entspricht zumindest oberflächlich dem gängigen Topos der strafenden Natur. Dass sich der Film in seiner Naturinszenierung durchaus auf dem Fundament der etablierten Kino-Ikonografie bewegt, beweist auch das Schlussbild: Es zeigt Sebastian und Belle, die sich, vergleichbar mit den Helden in Jean Renoirs
Die große Illusion (La grande illusion, Frankreich 1937) oder in François Truffauts
Das Geheimnis der falschen Braut (La sirène du Mississipi, Frankreich, Italien 1969), als winzige Punkte in einer Schneelandschaft aufzulösen scheinen – in einem Weiß, das die Reinheit ihrer Freundschaft ebenso symbolisiert wie die Unschuld der Natur.
Autor/in: Jörn Hetebrügge, Autor und Journalist mit den Themenschwerpunkten Kunst und Film, 11.12.2013
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