Ein "vergewaltigtes" Rollenverständnis
Jedes Verbrechen beinhaltet die Komponente Macht und Ohnmacht: Macht auf der Täter- und Ohnmacht auf der Opferseite. Macht wird vor allem dann demonstriert, wenn sie in Frage gestellt ist. Bei einer Vergewaltigung spielt die Komponente der Machtausübung eine besondere Rolle. Gerade bei diesem Delikt, das sich als absolute Demonstration "männlicher" Macht über eine Frau darstellt, geht es fast nie um die Befriedigung sexueller Bedürfnisse – tiefer liegende Schichten psychischer Defizite veranlassen den Täter dazu, dieses Verbrechen zu begehen. Vergewaltigung ist vor allem eine aggressiv motivierte Tat, die in der überwiegenden Zahl der Fälle im "sozialen Nahraum" stattfindet, wobei der Täter also bereits vorher eine wie auch immer geartete Beziehung zum Opfer hatte.
Häufig trifft man auf die Klischeevorstellung, das Opfer habe es "ja so gewollt". Aber selbst wenn die Frauen tatsächlich ihre weiblichen Reize eingesetzt haben, ist das niemals ein Freibrief für gewaltsame Übergriffe. Vorgegebene Rollen und daraus resultierende Erwartungshaltungen führen dennoch manchmal zu der fatalen Fehleinschätzung: Ein 'richtiger' Mann bekommt was er will und notfalls nimmt er es sich mit Gewalt. Andernfalls könnten sein männliches Selbstverständnis und seine Stärke durch die weibliche Rolle bedroht sein. Aus dieser Bedrohung erwächst Aggressivität, die zur Vergewaltigung führen kann.
Untersuchungen ergaben, dass die Opfer eine Vergewaltigung meistens mit den Gefühlen Todesangst, Demütigung, Hilflosigkeit und Ekel verbinden. Obwohl dies einem Täter rational nicht immer deutlich bewusst sein muss, geht es ihm doch gerade darum, sein Opfer bis hin zur totalen Vernichtung zu unterwerfen. Es hängt vom männlichen Individuum und seinem Selbstverständnis ab, wo die Grenze erreicht ist, jenseits derer er sich in seinem Rollenverständnis bedroht fühlt. Dabei spielt es eine Rolle, in welchen Traditionen und in welchem sozialen Umfeld er aufgewachsen ist und aus welchen Quellen sein männliches Selbstverständnis gespeist wurde.
Besonders problematisch gestaltet sich die Entwicklung der männlichen Geschlechtsidentität in einer weit gehend "vaterlosen" Gesellschaft, in der die Jungen nur unter der Obhut von Frauen aufwachsen und keine unmittelbare männliche Bezugsperson vorhanden ist, die man zum Vorbild nehmen könnte. Wenn in solchen Fällen die Entwicklung der Männlichkeit nur über eine Abgrenzung zum Weiblichen hin in einer doppelten Negation geschieht (der Junge sieht das Weibliche als nicht-männlich, folglich muss das Männliche nicht-nicht-männlich sein), gelten plötzlich wichtige positive menschliche Eigenschaften und Verhaltensweisen nicht mehr als männlich, weil sie nur als dem Wesen der Frau zugehörig erlebt wurden. Die Konfrontation damit kann zur persönlichen Bedrohung werden. Auf sozialer oder beruflicher Ebene lässt sich diese vermeintliche Bedrohung kompensieren – auf sexueller Ebene, also dort, wo es ihn in seinem vermeintlichen Kern als Mann trifft, wird er eben auf dieser sexuellen Ebene reagieren. Auch aus diesem Grund sind Väter bitter nötig.
Autor/in: Simone Lepetit, 11.12.2006