Die Risikogesellschaft
Der Begriff der "Risikogesellschaft" ist untrennbar mit dem der modernen Industriegesellschaft verbunden, die den globalen Gefährdungspotenzialen moderner Großtechnologien mit politischen und rechtlichen Regelungsmustern des 19. Jahrhunderts begegnet. Im Unterschied zu den Katastrophen der frühindustriellen Zeit lassen sich die Gefahren, die von Großtechnologien ausgehen, weder räumlich noch zeitlich oder sozial eingrenzen.
Ökologische Katastrophen wie Tschernobyl machen weder an nationalen Grenzen noch an sozialen Barrieren halt, sie verursachen Schädigungen und Zerstörungen und sind in ihrem Ende nicht absehbar. Sie entziehen sich dem Sicherheitsversprechen, auf dem Politik und Rechtsordnung beruhen, dass nämlich für den schlimmsten aller möglichen Fälle vorgesorgt sei. Das Prinzip der ökonomischen Entschädigung als Ausdruck dieses Sicherheitsversprechens versagt spätestens dann, wenn die Risiken industrieller Großtechnologien im Sprachgebrauch der Versicherungsunternehmen als "nicht versicherbar" gelten. Die Wahrscheinlichkeit gesellschaftlich zu verantwortender Katastrophen kann durch technologischen Fortschritt minimiert, nie aber ausgeschlossen werden. Das notwendige Maß an Gefährdung, dem die Bevölkerung sich auszusetzen hat, wird über Grenzwerte und Sicherheitsstandards in außerparlamentarischen Institutionen und Expertengremien festgelegt und ist damit den traditionellen politischen Entscheidungsinstanzen entzogen. Lebe gefährlich! wird zum verordneten Imperativ der Risikogesellschaft. Im Risikofaktor des "menschlichen Versagens" wird die Nicht-Beherrschbarkeit moderner Großtechnologien offenkundig.
Debatten über die Konsequenzen und Gefahren des technologischen Fortschritts werden nicht mehr zuerst in den Parlamenten, sondern in der Medienöffentlichkeit geführt. Medien müssen wie alle Kommunikationssysteme die zunehmende Komplexität gesellschaftlicher Problemstellungen selektiv wahrnehmen und reduzieren. Während zum Beispiel der Film als fiktionales Medium sein jeweiliges Thema auf einen dramatischen Konflikt reduziert, entscheidet im Bereich des Journalismus ein Bündel von Kriterien über die Auswahl und Bedeutung eines Themas. Die Zwänge der journalistisch genutzten Medien bestimmen die Form der Berichterstattung. Aktualität ist an die zeitliche Nähe zu einem konkreten Ereignis und im Bereich des Fernsehjournalismus auch an die Visualisierbarkeit der Nachricht gekoppelt. Diese ist im Zug der technologischen Innovation zum wichtigsten Auswahlkriterium der Medienberichterstattung geworden. Sie dient der Reduktion von Komplexität ebenso wie das Prinzip der Personalisierung, das ein Thema auf das Beispiel einer einzelnen oder auf wenige Person(en) begrenzt. Vielfach liefert erst der "Unfall" oder die Katastrophe die notwendigen Bilder und persönlichen Schicksale.
Die Auswahl journalistischer Themen wird darüber hinaus von der räumlichen und kulturellen Nähe bzw. Distanz zwischen dem Ereignis und den Nutzern des betreffenden Mediums geprägt. Schließlich unterliegt sie der Forderung, dass der Nutzer in der Lage sein muss, das Ereignis bzw. die daraus resultierende Nachricht zu bewerten. Fehlendes Wissen einer Bevölkerungsmehrheit als Voraussetzung einer normativen Bewertung und Einordnung dieser Ereignisse kann jedoch nicht dadurch kompensiert werden, dass die Bewertung an die Medien rückdelegiert wird. Journalismus beobachtet und reflektiert die Gesellschaft in ihrem Umgang mit riskanten Technologien. Eine politische Diskussion über geeignete und notwendige Instanzen, die verhindern, dass die in ihrer Entwicklung unabsehbaren Technologien allein anhand ihres ökonomischen Erfolges bewertet werden, kann er nicht ersetzen.
Literaturhinweise:
Ulrich Beck: Risikogesellschaft. Auf dem Weg in eine andere Moderne. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 1986
Ders.: Gegengifte. Die organisierte Unverantwortlichkeit. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 1988
Autor/in: Margarete Häßel (punctum, Bonn), 08.12.2006