Kinofilmgeschichte
Kino-Film-Geschichte XII: Zwischen Spektakel und Propaganda – Ein kurzer Abriss des chinesischen Films
Chinesen lieben das Spektakel. Bei jedem Fest schauen sie den Auftritten von Schauspielern oder Artisten zu, sogar bei Beerdigungen. Die Schauspiele sind meist Melodramen. Es wird gesungen und getanzt, Musik spielt dazu. Es geht um große Schlachten und große Leidenschaften, auch die Komik kommt nicht zu kurz. Kein Wunder, dass die Geschichte des Films in China aufs Engste mit dem Bühnen-Spektakel verbunden ist. Die ersten Filme, die um 1905 im Reich der Mitte gedreht wurden, konservierten Theateraufführungen. Ein Fotostudio in Beijing verfilmte Szenen aus der Oper Der Berg Dingjun.
Bühne und Film
Der Film ist auch später eine Symbiose mit dem Bühnenspiel eingegangen. Dieses gab dem chinesischen Kino seine spezifische Form: eine Mischung aus Pathos, kommentierenden (für den westlichen Zuschauer meist völlig überraschend auftauchenden) Liedern, derber Klamotte und sehr künstlicher Ästhetik. Außerdem blieb das Bühnenspektakel ein zentraler Stoff der chinesischen Filmkunst. Während der maoistischen Kulturrevolution in den Jahren 1966 bis 1977 gab es Bestrebungen, nur noch Verfilmungen neuer propagandistischer Beijingopern wie
Den Tigerberg mit taktischem Geschick erobern (1970) zuzulassen. Und noch die Regisseure der "Fünften Generation" bedienen sich, wie Zhang Yimou in
Leben (1994) oder Chen Kaige in
Lebe wohl, meine Konkubine (1993), der Geschichten von Bühnenkünstlern, um die Geschichte Chinas zu erzählen.
Das Kino und die Kolonialmächte
Die Geschichte des Landes ist der zweite Faktor, ohne den die Entwicklung des Kinos in China nicht zu verstehen ist. Der Film wurde als Produkt westlicher Kolonialmächte in ein Land eingeschleppt, das gerade aus einer jahrhundertelangen Isolation aufwachte. Die Kolonialmächte nutzten das Land zunächst als Absatzmarkt ihrer eigenen Produktionen. Das heißt, in der Stummfilmzeit kamen fast ausschließlich die Bewohner der großen, von den Kolonialmächten genutzten Städte Beijing, Shanghai und Kanton in den Genuss von Kinoaufführungen. Der Film in China konnte lange kein Medium der Massen werden. Auf vielen Dörfern war er bis in die Zeit der kommunistischen Herrschaft gänzlich unbekannt.
Wider die Kolonialherren
Der erste wirkliche Spielfilm, der im Jahr 1916 in China gedreht wurde, richtete sich gegen die Kolonialisten. Unschuldiger Geist in der Opiumhöhle von Zhang Shichuan erzählt von der Zerstörung einer Familie durch das Rauschgift, das die Kolonialherren ins Land gebracht hatten. Antiimperialistische Propaganda sollte ein Schwerpunkt des chinesischen Kinos bleiben. Später richtete sie sich gegen die Japaner, die 1931 die Mandschurei besetzten und sich nach ihrem Angriff von 1937 weitere Teile des Landes unterwarfen. Aus der Empörung über die japanische Besatzung sind einige der in China populärsten Filme entstanden, z. B. der Zweiteiler Die Wasser des Frühlingsstromes fließen nach Osten von Zheng Junli und Cai Chusheng (1947/48) oder Das weißhaarige Mädchen von Wang Bin und Shui Hua (1950). Noch Zhang Yimous Das rote Kornfeld (1987) ist von dieser Haltung geprägt.
Der spektakuläre Eastern
1949 schloss die Kommunistische Partei Chinas unter der Führung von Mao Zedong ihren Langen Marsch erfolgreich ab. Im Verlauf eines Bürgerkrieges floh die nationalistische Partei Guomindang unter Chiang Kai-Shek auf die Insel Taiwan und die Volksrepublik China wurde gegründet. Die Kommunisten verwandelten den Film, der sogar in seinen populärsten Produkten noch eine Art oppositionelles Untergrund-Medium gewesen war, schnell in ein opportunistisches, staatlich gelenktes Propagandainstrument. Formal orientierte es sich an Vorbildern des Sozialistischen Realismus nach den Vorstellungen Stalins. Andererseits griff man auf ein Genre zurück, das seit den 20er Jahren mit wachsendem Erfolg vor allem in Shanghai produziert worden war: den Kampffilm mit spektakulären Schau-Effekten. Als "Eastern" oder "Kung-fu-Film" sollte dieses Artisten-Kino (produziert allerdings in den Studios von Hongkong oder Taiwan) in den 70er Jahren dem chinesischen Kino im Westen eine erste kommerzielle Bresche schlagen.
Getanzte Propaganda
Während der Kulturrevolution wurden in der Volksrepublik zunächst alle traditionellen Formen und Genres verworfen und statt dessen getanzte Verklärungen des Kommunismus und propagandistisch verbogene Beijingopern in den Uniformen der Volksbefreiungsarmee auf die Leinwände geschickt. Das war eine Idee von Mao Zedongs Frau Jiang Quing, einer ehemaligen Filmschauspielerin. Sie war auch das Haupt der "Viererbande", die nach Maos Tod die Macht in China übernahm. Erst mit deren Sturz und mit den folgenden, tiefgreifenden politischen und wirtschaftlichen Reformen unter Deng Xiao Ping bekam das chinesische Kino seine Chance zu jenem Aufbruch, der ihm heute Weltbedeutung verleiht.
Die jungen Macher
1977 wurde die Kulturrevolution offiziell für beendet erklärt. Ein Jahr später nahm eine Reihe junger Leute das Studium an der Beijinger Filmakademie auf. Fast alle waren selbst Opfer des Terrors der Roten Garden. Das ist die "Fünfte Generation" chinesischer Filmemacher, zu der Zhang Yimou, Chen Kaige, Huang Jianxin und Tian Zhuangzhuang gehören. Erschüttert von ihren historischen Erfahrungen nutzten sie die neuen Freiheiten, die dennoch unter der Drohung staatlicher Zensur blieben, um eine subtile Symbolsprache zu entwickeln, einen epischen Stil voller Kraft. Sie wagen es, wieder zurückzugreifen auf die Qualitäten des Spektakels und sie haben mit erstaunlichen Filmen die kinematografische Isolation des Reiches der Mitte wohl endgültig überwunden.
Autor/in: Herbert Heinzelmann, 21.09.2006