Filmfest München 2002
Ten Minutes Older
Auch im 20. Jahr seines Bestehens ist und bleibt das Filmfest München ein Publikumsfestival. Wer mit nur einem Film bereits umfassend mitreden wollte, war mit dem Gemeinschaftsprojekt sieben international renommierter Regisseure mit minimalem Zeitaufwand gut bedient und fühlte sich wirklich nur
Ten Minutes Older . Die darin versammelten sieben Kurzfilme zum Thema Zeit u. a. von Aki Kaurismäki, Wim Wenders, Victor Erice, Chen Kaige und Jim Jarmusch sind Autorenkino mit unverwechselbarer Handschrift, allerdings in rein männlicher Regie. Ganz unmittelbar politisch präsentierte sich der Doku-Beitrag von Spike Lee über den "Wahlbetrug" in Florida bei den letzten amerikanischen Präsidentschaftswahlen. Werner Herzog schließlich spürte den Überlebenden des letzten bisher entdeckten Stammes von Eingeborenen in Südamerika nach, die nach ihrem Kontakt mit der Zivilisation 10.000 Jahre Entwicklungsgeschichte übersprangen und deshalb wie die Fliegen starben.
Human Nature
Zurück zur Natur?
Aus der Vielzahl sehenswerter Beiträge in der Reihe World Cinema stach besonders die amerikanische Komödie
Human Nature - Die Krone der Schöpfung des französischen Musikvideofilmers Michel Gondry hervor, die den High Hopes Award als bester Nachwuchsfilm erhielt.
Human Nature setzt sich auf ebenso intelligente wie witzige Weise mit der Zivilisation des Menschen auseinander, die ihn angeblich zwar vom Affen unterscheidet, aber laut Gondry mit dem hohen Preis der Entfremdung und Unfreiheit bezahlt wurde. Der Film reflektiert darüber, was mit unserer Gesellschaft passieren könnte, wenn alle nach ihren "animalischen" Bedürfnissen leben und lieben würden und einfach (wieder) sie selbst wären. Ein in freier Natur aufgewachsener Wilder wird von einem ungleichen Forscherpaar entdeckt. Während der als Kind zum Neurotiker erzogene Wissenschaftler den Wilden möglichst schnell "zivilisieren" möchte, entdeckt seine an übermäßigem Haarwuchs leidende und damit zur Außenseiterin gestempelte Frau Gemeinsamkeiten mit dem "Forschungsobjekt" und verliebt sich in ihn.
Whispering Sands
Mütter und Väter 1
Auffallend viele deutsche und internationale Filme beschäftigten sich diesmal mit Müttern und Vätern. Claude Miller erzählt – und das ist stimmig und glaubhaft wirklich nur im französischen Film möglich – in Die Masken der Mütter die Geschichte einer jungen alleinerziehenden Mutter, die durch einen Unglücksfall ihr Kind verliert, gerade als die eigene, psychisch kranke Mutter nach vielen Jahren erstmals zu Besuch kommt. Ihrer Mitschuld bewusst, kidnappt letztere den vernachlässigten Jungen einer Gelegenheitsprostituierten und hofft auf diese Weise, die eigenen Fehler an der Tochter wieder gutzumachen, die das "Ersatzkind" nach anfänglichem Widerstand akzeptiert. – Um ganz existenzielle Probleme geht es in der indonesisch-japanischen Koproduktion Whispering Sands von Nan Achnas. Der vor grandioser, archaischer Naturkulisse spielende Film erzählt einen Mutter-Tochter-Konflikt, der sich zuspitzt, als beide vor brandschatzenden Räubern und marodierenden Soldaten flüchten und sich der nach langer Abwesenheit zurückgekehrte Vater auch für die Heranwachsende als Alkoholiker und Taugenichts entpuppt.
Scherbentanz
Mütter und Väter 2
Auf etwas andere Weise werden offenbar deutsche Mütter und Väter zum Problem bzw. zum Filmstoff: In Dani Levys
Väter verlässt eine Mutter mit ihrem Sohn den geliebten Mann, weil dieser für einige Monate zu sehr seine Karriere im Kopf hatte und darüber die Familienpflichten vernachlässigte. Als die Frau ihrem Mann auch noch gerichtlich den Umgang mit dem Sohn verbietet, kidnappt der Vater sein Kind aus dem Kindergarten und fährt mit ihm schnurstracks in eine trostlose Wüstenlandschaft. Dort erkennt er immerhin, dass sein Sohn etwas andere Bedürfnisse hat. Noch bevor der Rosenkrieg zwischen den Ehepartnern eskaliert, entdecken beide, dass sie für ihr Kind gemeinsame Verantwortung haben. Levy seziert deutsche Familienbefindlichkeiten zwischen Karriere, Küche und Scheidungsalltag schauspielerisch überzeugend und in den jeweiligen Szenen stimmig. Lediglich im Gesamtentwurf wirken die Entwicklung der Figuren und einige Details doch etwas konstruiert. – Reifer und von seinen intensiven Bildern her kinotauglicher wirkte
Scherbentanz von Chris Kraus über den Zusammenbruch einer Familie, mit Jürgen Vogel in der Hauptrolle. Dort ist der Vater ein Tyrann, der die Mutter zum Leidwesen der beiden Söhne in den Wahnsinn trieb. Das ganze Ausmaß der Tragödie erschließt sich über Rückblenden, als der jüngere Bruder an Leukämie erkrankt und nur durch eine Knochenmarkstransplantation der verschollenen Mutter noch gerettet werden kann.
Ghettokids
Migrantenkinder
Die mehr als 40 Produktionen umfassende Reihe "Deutsche Fernsehfilme" ist fast schon zu einem eigenständigen Festival im Rahmen des Filmfest München geworden. Nicht allein der Nachwuchs, auch bekannte Namen aus dem Bereich Kinofilm sind darunter, wie Oliver Hirschbiegel, Oskar Roehler, Dominik Graf, Dagmar Hirtz oder Christian Wagner (Wallers letzter Gang). Sein neuer Film Ghettokids handelt von griechischen und türkischen Gastarbeiterkindern und ihren täglichen Problemen im Elternhaus und mit der Polizei. Die in München angesiedelte Version von Dangerous Minds ist weniger spektakulär als ihr amerikanisches Vorbild, dafür aber nicht minder unterhaltsam und viel dichter an der Realität der Jugendlichen hierzulande. Statt bei den Marines war Barbara Rudnik in der Rolle einer Lehrerin für die jungen Underdogs unserer Gesellschaft einfach nur ein paar Jahre in Griechenland, und den Respekt der Jugendlichen gewinnt sie nicht durch Kampftechniken, sondern über das gemeinsame Interesse an Rap-Musik.
100 Days
Afrikabilder
Fast scheint es, als würden sich deutsche Filmemacher zurzeit weniger für aktuelle weltpolitische Probleme interessieren. Doch es gab Ausnahmen. Fritz Baumann drehte mit
Anansi einen sauber inszenierten, packenden Kinofilm über "illegale" afrikanische Emigranten von Afrika nach Europa. Er zeigt ihre handfesten Motivationen, die Heimatländer zu verlassen, selbst wenn die Bundesregierung "diplomatische Beziehungen" zu diesen als "relativ sicher" eingestuften Ländern unterhält, zeigt ihre Flucht unter Lebensgefahr und ihre grenzenlose Desillusionierung auf dem Kontinent der Hoffnung. – Schockierender noch die endlose Spirale der Gewalt in der britisch-ruandischen Koproduktion
100 Days von Nick Hughes. In seiner Inszenierung zeichnet er den Völkermord in Ruanda zwischen Tutsi und Hutu nicht ganz unparteiisch nach, dafür aber umso anschaulicher anhand des Schicksals eines Dorfes und ihrer Bewohner. Deutliche Kritik übt der Film an der unrühmlichen Rolle der katholischen Kirche wie auch der UN-Schutztruppen bei diesem Konflikt.
The Mad Songs of Fernanda Hussein
Nach dem 11. September
Mit dem weltpolitischen Klima nach den Terroranschlägen auf das World Trade Center beschäftigt sich auch ein deutscher Filmemacher. In seinem dokumentarischen, Essayfilm Essen, schlafen, keine Frauen zeigt Heiner Stadler in einer fiktiven Montage, wie sich die ersten Bombenabwürfe der Amerikaner auf afghanische Städte am 7. Oktober 2001 ganz unmittelbar auf eher private Ereignisse in der ganzen Welt ausgewirkt haben, vom steigenden Goldpreis am Amazonas über die Absage eines Konzerts mit einem ägyptischen Popstar in Washington bis zu einem geplatzten Hochzeitstermin in Rawalpindi. Ein gelungener Versuch, Weltpolitik im Zeichen der Globalisierung für den einzelnen sinnlich nacherlebbar zu machen. –Obwohl der Amerikaner John Gianvito in seinem fast dreistündigen, ebenfalls fiktiv-dokumentarischen Werk The Mad Songs of Fernanda Hussein rückblickend den Golf-Krieg und seine Folgen in den USA aufarbeitet und dabei auch bisher unveröffentlichtes Material des keineswegs "sauberen" Krieges verwendet, vermittelt der Film auch einiges über die aktuelle Gemütslage vieler Amerikaner nach den Terroranschlägen. Gleich zu Beginn etwa sieht man den Mord an zwei Kindern, nur weil diese zufällig den Nachnamen "Hussein" tragen. Ein nicht ganz einfacher Film, der Geschichte wirklich kritisch betrachtet und damit dem Mainstream etwas entgegensetzen kann.
Autor/in: Holger Twele, 21.09.2006