Venedig 2002 – 59. mostra internationale d'arte cinematografica
Bear's Kiss
Nach nur wenigen Monaten Vorbereitungszeit ist es dem langjährigen Berlinale-Leiter Moritz de Hadeln tatsächlich gelungen, noch ein abwechslungsreiches und differenziertes Wettbewerbsprogramm für die Mostra zusammenzustellen. Er hatte zumindest für dieses Jahr die Leitung des in die (Führungs-)Krise geratenen, ältesten Filmfestivals der Welt übernommen. Mehr als Berlin war Venedig dem Kunstkino schon immer besonders zugetan und de Hadeln hat an dieser Prämisse klugerweise nichts geändert. Sein Wettbewerb hatte Platz für anspruchsvolles Genrekino, wie das amerikanische Gangsterdrama
Road to Perdition von Sam Mendes, aber auch für Liebesgeschichten aus aller Welt und für Filme, die sich gesellschaftskritisch mit Geschichte und Gegenwart auseinander setzten. Für filmische Überraschungen gut waren ebenfalls einige Sondervorführungen und die Sektion "Contrecorrento” (Gegen den Strom), der einen eigenen Wettbewerb hatte und Filme vorstellte, die den gängigen Mitteln des Mainstream nicht entsprechen.
Oasis
Deutsche Beteiligung
Gleich vier Filme unter deutscher Regie oder mit deutscher Beteiligung fanden sich diesmal im Wettbewerb. Doris Dörrie stellte ihr neues Beziehungsdrama
Nackt über die Irrungen und Wirrungen dreier junger Paare vor, Winfried Bonegel seinen umstrittenen Film
Führer Ex über deutsch-deutsche Vergangenheit und Neonazis, zu dem ihn seine Freundschaft mit dem bekannten Aussteiger Ingo Hasselbach angeregt hatte. Beide Filme wurden in Italien wohlwollend, aber nicht mit voller Begeisterung aufgenommen.
Bear's Kiss von Sergej Bodrov hätte ein großer Wurf werden können, denn er versucht, die real existierende problematische Welt einer Heranwachsenden mit der Magie eines Märchens und mit russischer Mythologie zu verbinden. Der mit fünf europäischen Ländern unter maßgeblicher Beteiligung von Deutschland (Pandora) produzierte Film über eine junge Zirkusartistin, die einen Bären so sehr liebt, dass er für sie zum Lebenspartner wird, wollte offenbar den Erfolg von
Luna Papa wiederholen, bleibt aber unentschlossen zwischen Realismus und Magie hängen und gerät zu einem Eurobrei, der trotz beeindruckender Ingredienzen nicht so recht schmecken will. Weitaus risikofreudiger war da Agnieszka Holland mit ihrer deutsch-kanadisch-polnischen Produktion
Julie Walking Home über die Liebe einer kanadischen, katholischen Ehefrau zu einem russischen Wunderheiler in Polen, der ihren krebskranken Sohn behandelt. Ein Film voller Ecken und Kanten, der den Zuschauer immer wieder auf falsche Fährten lockt und zum Nachdenken bringt über menschliche Werte und über das, was hinter der Vernunft steht.
The Tracker
Liebe als Passion
Seine Version eines künstlerisch perfekt umgesetzten Liebesdramas präsentierte Takeshi Kitano in seinem neuen Werk
Dolls , drei Geschichten über die unsterbliche Liebe, inspiriert nach den Puppen des japanischen Bunraku-Theaters. Der Film als siebte Kunst, der alle anderen Künste in sich vereinigt, bei Kitano ist diese Theorie praktisch umgesetzt, wird zu einem Genuss für Augen und Ohren. Und das, obwohl die Geschichten eigentlich melancholisch stimmen, von einem alternden Yakuza handeln, der seiner Karriere willen die Geliebte sitzen ließ, von einer erfolgreichen Popsängerin, die bei einem Unfall entstellt wurde und in einem Blinden ihren treuesten Verehrer findet, von einem glücklichen Paar, dessen Liebe an gesellschaftlichen Konventionen zu zerbrechen droht.
Oasis des Koreaners Lee Chang-dong handelt ebenfalls vom Spannungsfeld zwischen persönlichem Glück und gesellschaftlichen Erwartungen, mal sehr poetisch, dann wieder schockierend dokumentarisch, anstrengender, nicht minder faszinierend. Das schwarze Schaf einer Familie, geistig leicht zurückgeblieben, mehrmals mit dem Gesetz in Konflikt geraten, lernt zufällig eine von der Außenwelt abgeschirmte, durch Spasmen körperlich und sprachlich stark behinderte Frau kennen. Was wie eine Beinahe-Vergewaltigung beginnt, entwickelt sich zu echter Zuneigung und Liebe, die jedoch von der Gesellschaft nicht geduldet und als pervers eingestuft wird. Obwohl zahlenmäßig dieses Jahr weniger stark vertreten, war das ostasiatische Kino mit diesen beiden Beiträgen im Wettbewerb qualitativ wieder würdig vertreten.
11'09''01 - September 11 Beitrag von Ken Loach
Invasoren und Einwanderer
Mit Arroganz und dem blutigen Terror der weißen Rasse gegenüber den australischen Ureinwohnern rechnet der in Holland geborene, in Australien aufgewachsene Rolf de Heer in seiner Filmballade The Tracker ab und es ist eine Abrechnung, die auf Wut, gerechter Bestrafung aber auch Selbstjustiz beruht. Mitte der 1920er Jahre machen sich drei weiße Soldaten mit Hilfe eines eingeborenen Fährtensuchers auf den Weg, um einen des Mordes an einer weißen Frau angeklagten Aboriginal zu finden. Das sind filmisch sehr anspruchsvoll inszenierte Erinnerungen an ein wichtiges Stück australischer Geschichte, die dort im Zuge aktueller Einwanderungspolitik allzu gerne in Vergessenheit geraten. Publikumswirksamer nähert sich Stephen Frears in Dirty Pretty Things einigen nicht nur in Großbritannien brisanten Gegenwartsproblemen wie illegaler Einwanderung und Schwarzhandel mit menschlichen Organen. Im Mittelpunkt seines Films steht ein illegal eingewanderter, schwarzafrikanischer Arzt, der in seiner Heimat von der Polizei gesucht wird, eigentlich nach Lagos zu seiner Tochter möchte und sich in London in eine ebenfalls "illegale” Türkin verliebt. Er gerät in einen Gewissenskonflikt, als man ihn erpresst, eine Organtransplantation vorzunehmen. Für dieses Dilemma weiß Frears einen überraschenden Ausweg und statt seinen sympathischen Film eher wie einen Krimi oder wie ein Sozialdrama zu inszenieren, hat er sich für eine unterhaltsame und kurzweilige Sozialstudie über heimatlose Menschen und ihre Schicksale entschieden und genau das macht den Film sehenswert.
Clowns in' Kabul
Der 11. September
11 FilmemacherInnen aus der ganzen Welt verarbeiteten ihre Eindrücke über den 11. September 2001 in dem französischen Kompilationsfilm
11'09''01 - September 11 , der sicher einer der herausragenden Beiträge des Festivals war. Es gab keine konkreten Vorgaben, wie man das Thema aufgreifen sollte, und entsprechend vielfältig und persönlich engagiert sind die Beiträge geworden, fiktiv, dokumentarisch, experimentell, kritisch, affirmativ, mal fast ohne Ton aus der Sicht einer Taubstummen bei Claude Lelouch oder fast ohne Bilder bei A.G. Inarritu. Über das reine Betroffenheitskino gehen sie zum Glück alle hinaus und machen auf ihre Art nachdenklich, setzen der offiziellen Diskussion über den Tag und seine Folgen persönliche Akzente hinzu. Man kann diese nur schwer miteinander vergleichen und nicht mit den Kategorien besser oder schlechter fassen. Wie wollte man beispielsweise Sean Penns Beitrag, der den Ereignissen bei allem Leid auch ein Stück Hoffnung abgewinnt, mit dem des Bosniers Danis Tanovic vergleichen, der sich dabei an die von der Welt zugelassenen Gräuel von Sebrenica erinnert? Den mit Abstand größten Applaus erhielt jedenfalls Ken Loach für seinen wohl am meisten provozierenden Beitrag. Er erinnert in einem fiktiven Brief eines Exilchilenen an dessen amerikanische Freunde an einen anderen 11. September, der für ein ganzes Volk zum Trauma wurde und ebenfalls als Angriff auf die Demokratie empfunden worden ist: Fast 30 Jahre zuvor wurde an diesem Tag das chilenische Staatsoberhaupt Allende unter Mitwirkung des CIA ermordet, das nachfolgende Militärregime mit Unterstützung der USA forderte fast 30.000 Menschenleben.
Afghanistan im Film
Selbst Ereignisse nach dem 11. September fanden in Beiträgen des Festivals bereits ihren Niederschlag, wenn auch erst im Dokumentarfilm. Mehrdad Farid berichtet in Afghanische Kinder von dem Flüchtlingsproblem in seinem Land Iran (mehr als 3 Mio. Afghanen) und der Ungleichbehandlung afghanischer Kinder, denen als Flüchtlingen oft der Schulbesuch verwehrt wird. Tran Davies erzählt in Afghan Stories aus der Sicht amerikanischer Afghanen und etwas zu sehr mit propagandistischem Elan von der Zerstörung des alten Heimatlandes wie von der allseits keimenden Hoffnung auf eine bessere Zukunft. Enzo Balestrieri und Stefano Moser schließlich dokumentierten in Clown in' Kabul die von der Stadt Rom mitfinanzierte Reise des amerikanischen "Doktor-Clowns” Patch Adams mit zwanzig seiner KollegInnen im Februar 2002 nach Afghanistan. Sie versuchten dort, Kinder und Erwachsene (wieder) zum Lachen zu bringen, in Krankenhäusern und Rehabilitationszentren, in der Stadt und in abgelegenen Gebirgsregionen. Dabei sind den FilmemacherInnen intensive und intime Bilder gelungen, die mit einem einfühlsamen Soundtrack unterlegt sind und weniger die ehrenwerte Arbeit der Helfer als deren unmittelbare Erfahrungen und die Reaktionen der Bevölkerung filmten. Es war nebenbei bemerkt der einzige Film des ganzen Festivals, in dem die sonst so auf Filmkunst eingeschworenen, überwiegend italienischen Fachbesucher bei den ersten Credits nicht gleich in Scharen aus dem Kino eilten, um ihren noch eiligeren Handy-Geschäften nachzugehen.
Autor/in: Holger Twele, 21.09.2006