Kinofilmgeschichte
Fans, Faszination und Fouls: Fußball im Film
Ein Fußballspiel dauert durchschnittlich 90 Minuten, genau wie ein Spielfilm. Ein Fußballspiel ist allerdings in dem Moment, da es angepfiffen wird, ergebnisoffen. Der Film dagegen folgt in seiner Handlung einer abgeschlossenen Dramaturgie. Deswegen ist ein Fußballspiel einem Film selbst dann noch "überlegen", wenn es langweilig ist. In der letzten Minute kann etwas geschehen, das den bisherigen Spielverlauf auf den Kopf stellt. Vielleicht erklärt sich daraus die Einschätzung des Fußballfans und Filmemachers Wim Wenders: "Gegen die Dramaturgie eines Fußballspiels kann man mit den Mitteln des Films nur verlieren."
Das Wunder von Bern
Die Angst der Tormanns
Deswegen ist der Film mit dem berühmten Fußball-Titel Die Angst des Tormanns beim Elfmeter, den Wenders 1972 nach einem Roman von Peter Handke gedreht hat, auch kein Film über den Mannschaftssport, sondern über die Einsamkeit. Am Ende sagt der Tormann und Mörder Bloch etwas, das auf die Differenz in den Freiheiten eines Fußball- und eines Filmzuschauers aufmerksam macht. Der Betrachter am Spielfeldrand kann sich seinen Blickwinkel wählen. Der Filmzuschauer ist immer der Manipulierte. Ihm wird der Kamerablick aufgezwungen.
Der Spieler im Blick
Exemplarisch hat der Experimentalfilmer Hellmuth Costard diesen Zwang 1970 in Fußball wie noch nie vorgeführt. Einen ganzen Spielverlauf lang lässt er die Kamera einen einzigen Spieler beobachten, und zwar nur in den Einstellungen "Halbnah" und "Groß". Der Außenstürmer George Best von Manchester United ist zwar immer im Bild, doch selten am Ball. Der Zuschauer beobachtet Bewegungsabläufe, mimische Kommentare und sogar einen erfolgreichen Torschuss. Aber durch die Konzentration auf das Detail verliert er die Übersicht über das Ganze. Ein irritierendes Erlebnis.
Bando und der goldene Fußball
Modell für die Gesellschaft
Dabei erzählen die meisten Fußballfilme – Hunderte davon wurden im Lauf der Kinogeschichte in allen Winkeln der Welt gedreht – von der Notwendigkeit der Harmonie zwischen dem Teil (der Spielerpersönlichkeit) und dem Ganzen (der Mannschaft). Fußballfilme – zum Beispiel den rumänischen Streifen Fußballliebe von 1987 – kann man häufig als Modelle für das Funktionieren von Gesellschaft interpretieren. Es geht um Rollenverteilung, um Führung und Unterordnung, um Motivation und Massenpsychologie (im Umgang mit den Fans) und um das Verkraften von Siegen und Niederlagen. Der Problematik von aggressivem Fan-Verhalten und faschistoider Hooligan-Mentalität, die skrupellos Feindbilder aufbauen und Führervorbilder idealisieren, widmen sich im fiktiven Bereich Ricky Toggnazzis Ultra und mit dokumentarischen Mitteln Adolf Winkelmanns Nordkurve.
Elf Freunde sollt ihr sein
Weil Fußball ohne die soziale Komponente nicht funktioniert, taucht er als Thema gern in pädagogischen Filmen auf. Viele Kinderfilme erzählen Fußballgeschichten, erzählen von Sportbegeisterung, von Sinnfindung, von Rivalität und von Freundschaft unter der Überschrift "Elf Freunde sollt ihr sein". Nur ein paar Titel:
Bando und der goldene Fußball aus Guinea,
Unser Torwart spielt Klavier und
Geheimbund Goldener Ball aus der CSSR,
Der neue Fimmel und
Drei Mädchen im Endspiel aus der DDR, aktuell
Es gibt nur einen Jimmy Grimble aus Großbritannien und
Die wilden Kerle aus Deutschland. Auch Bo Widerbergs
Fimpen, der Knirps aus Schweden wendet sich zuerst an Kinder, zeigt er doch, wie ein kleiner Kerl die Nationalelf zu Triumphen führt.
Fußball ist unser Leben
Träume und Illusionen
In Fußballfilmen geht es häufig um Integration, viele wollen das Kinopublikum selbst integrativ einbeziehen. Mit seinen Wurzeln im Arbeitermilieu sorgt der Fußballsport nicht nur im Stadion, sondern auch im Lichtspielhaus für Träume, Illusionen, Identifikationen gerade bei Menschen aus der Unterschicht. Auf dem Rasen und vor der Leinwand will derjenige mit seiner Mannschaft siegen, dem sonst die soziale Niederlage in das Lebensspiel geschrieben ist. Don Camillos Fußballhaufen bietet im ersten Teil der Film-Serie um den streitbaren Priester den armen Bauernjungen aus der Po-Ebene Ablenkung vom Alltagselend und wenigstens manchmal das Gefühl, etwas zu bedeuten. Noch die deutsche Komödie Fußball ist unser Leben von 1999 ist durch die Proleten-Gestalt Pollak mit seiner Anhänglichkeit an Schalke sympathisch.
Das Spiel der Götter
Dass das abendländische Fußballspiel längst andere Kulturen infiziert, zeigen neuere Filme wie
Spiel der Götter, in dem buddhistische Mönche vom Ballfieber erfasst werden, und
Kick it Like Beckham, in dem ein indisches Mädchen am Leder alle kulturellen Konventionen durchbricht. In der Wirklichkeit ist sowohl die Integration der Geschlechter wie auch unterschiedlicher Ethnien im Rahmen der Sportart Fußball ziemlich mühsam. Das belegen Dokumentationen wie
Omar Daf – Fußballer-Transfer aus Afrika über die Probleme eines senegalesischen Jungen in französischen Mannschaften oder
Nach dem Spiel über das Scheitern eines türkischen Mädchen-Teams aus Kreuzberg an der Ausländerfeindlichkeit der Deutschen und dem Machismo der türkischen Männer.
Das Wunder von Bern
Die Kampf-Metapher
Schließlich ist Fußball ein Kampfsport, der "Krieg" simuliert. Daher ist er als Filmstoff geeignet, Konflikte zuzuspitzen. Er lässt sich zu Propagandazwecken instrumentalisieren wie in dem sowjetischen Streifen Sportehre von 1951. Hier geht es darum, dass ein kommunistisches Fußball-Kollektiv dem kapitalistischen Team aus Spielerindividuen unbedingt überlegen sein muss. Eine Episode von Joris Ivens' Dokument Wie Yü Gung Berge versetzt zeigt, dass Fußball sogar für die Interessen der maoistischen Kulturrevolution in China gut war. Auch als Kampf-Metapher eignet sich ein Fußballspiel gut. Sie kann überzeugen wie in Zoltan Fabris Zwei Halbzeiten in der Hölle (Ungarn 1961), in dem die Gefangenen-Mannschaft in einem ungarischen Straflager an "Führers Geburtstag" 1944 gegen deutsche Besatzer verlieren soll. Sie kann dasselbe Thema platt verschenken wie John Hustons Flucht oder Sieg (USA 1981). Da spielen alliierte Gefangene in Paris gegen die Deutschen. Und die Filmzuschauer müssen Sylvester Stallone und die Fußball-Legende Pelé (auch als Berater für die Spielszenen tätig) in derselben Mannschaft ertragen.
Aus! Aus! Aus!
Seit 1911 sind das Kino und sein Publikum vom Fußball fasziniert. In dem Jahr wurde mit
Harry the Footballer der erste Fußballfilm überhaupt gedreht, aus diesem Jahr gibt es Szenen vom Fight "Deutschland gegen England" (2:2). Das Kino hat große Fußballer gefeiert wie Franz Beckenbauer in
Libero, und es ist daran gescheitert, Fußballstars in Filmstars zu verwandeln, wie Paul Breitner mit
Potato Fritz erfahren musste. Das Kino ist ein Medium, das Wirklichkeit gern in den Mythos erhebt. Kein Wunder, dass es sich jetzt dem
Wunder von Bern zuwendet, an dem sich die Bundesrepublik Deutschland angeblich aus der Niederlage von 1945 aufrichtete. Wer mit den Berner Helden zu viel feiern möchte, sollte rasch die Schlusssequenz aus Rainer Werner Fassbinders
Die Ehe der Maria Braun rekapitulieren. Da brüllt der Rundfunkreporter Heribert Zimmermann sein emphatisches "Aus! Aus! Aus!" über die Bilder eines zerstörten Hauses. Der neue Wohlstand fordert erste Opfer.
Autor/in: Herbert Heinzelmann, 21.09.2006