Hintergrund
Schrift, Bild und Geschwindigkeit – Die Reformation als Medienereignis
Heute würde die Reformation wohl so ablaufen: Auf seiner Homepage veröffentlicht der Mönch Martin Luther 95 Thesen über Ablass und Gnade. Sie werden in Chats, auf Pin-Boards und in TV-Talk-Shows heftig diskutiert. Im Gegenzug beruft die päpstliche Seite eine Pressekonferenz ein, die zumindest von den Nachrichtensendern Phoenix, N-TV und N24 live übertragen wird. Die Tages- und Wochenzeitungen kommentieren auf allen Ebenen. Als Luther in Worms widerrufen soll, ist vor dem Dom ein riesiges Pressezentrum aufgeschlagen. Sogar CNN hat eine Direktleitung geschaltet. Nach dem Verschwinden des Mönchs recherchieren investigative Journalisten sein Exil auf der Wartburg. Schließlich schießt seine deutsche Bibel-Übersetzung in den Bestsellerlisten blitzartig nach oben. Gleichzeitig läuft das Casting für das neue Sende-Format "Der Super-Reformator" an.
Szene aus dem Film "Luther"
Die Medien in der Geschichte
Geschichtliche Ereignisse waren stets auch Medienereignisse und sie wurden zu Ereignissen durch die Medien ihrer Zeit. Dabei sollen Medien im weitesten Sinn als Formen der Kommunikation verstanden werden. Insofern resultiert der Handel über große Entfernungen im antiken Mesopotamien aus der Erfindung des Mediums (Keil)Schrift, und die Diskurs-Demokratie im alten Griechenland ist ein Produkt des Mediums Rhetorik. Das Christentum wurde bis in Luthers Epoche hauptsächlich durch die Medien Predigt, Ritual, Architektur und Bildende Kunst verbreitet. In ihrer Alltagserscheinung hatte Religion wenig mit Schrift zu tun. Es galt das gesprochene Wort. Die Bilder zu diesem Wort und damit den Stoff für die Fantasien in den Köpfen lieferten die Gemälde auf den Altären. Dazu erzählten Kirchenbauten und -riten selbst biblische Geschichten.
95 Thesen als Plakatdruck
Als Martin Luther in die Welthistorie eintrat, stand diese gerade in einer medialen Umbruchsituation, die der gegenwärtigen Explosion der elektronischen Medien in ihrer Wirkung durchaus vergleichbar ist. Die Thesen, die er 1517 veröffentlichte, nutzten ein brandneues Medium: den Druck. Wir kennen sie in keiner handschriftlichen Version sondern nur als Plakatdruck. Das hat zu der Legende geführt, Luther hätte dieses Plakat an die Tür der Schlosskirche von Wittenberg genagelt. Tatsächlich aber hat die Multiplikationswirkung der Drucktechnik rasch und großflächig Öffentlichkeit für die Thesen hergestellt. Ohne das neue Medium wäre die Reformation womöglich anders verlaufen.
Szene aus dem Film "Luther"
Wachstumsbranche Schwarze Kunst
Die erste Druckerpresse mit beweglichen Lettern wurde bekanntlich 1455 von Johann Gutenberg in Mainz in Betrieb gesetzt. Mit dieser Erfindung erst konnte die Schrift zu einem Massenmedium werden. Denn bis dahin waren Bücher handschriftliche Unikate. Ihre Vervielfältigung war mühsam und langsam. Die entscheidende Folge nahezu jeder Medienrevolution ist eine Beschleunigung der Kommunikation. Die Druckerpresse setzte auch so eine Beschleunigung in Gang. Schon am Ende des 15. Jahrhunderts hatte sich die so genannte Schwarze Kunst als Wachstumsbranche über ganz Europa ausgedehnt. Auch wenn der Analphabetismus noch Bildungsnorm war, wurde der Zugriff auf die Schrift für breitere Schichten möglich. Sie war ganz einfach kein in Klosterbibliotheken gehütetes Geheimnis mehr, sondern präsentierte sich vital in der Öffentlichkeit.
Machtverlust der Bilder
Mit dieser Erfindung konnten sich Luthers Lehren durch das neue Medium nicht nur rasanter verbreiten, als es wenige Jahre zuvor möglich gewesen wäre. Auch die Lehre des "sola scriptura" selbst, der Bibelauslegung allein auf der Basis der (Heiligen) Schrift, ist nur vor dem zeitgeschichtlichen Hintergrund vorstellbar, dass diese Schrift nunmehr allgemein zugänglich wurde. Zu Luthers Zeiten spielte sich ein gegenläufiger Prozess zur gegenwärtigen medialen Entwicklung ab. Während heute die Macht der Bilder zunimmt, verlor sie damals an Bedeutung. Bis zur Reformation war der Volksglaube vor allem von deftigen Altargemälden und comic-ähnlichen Bilderbibeln beeinflusst. Jetzt wurden diese Bilderwelten von der Abstraktion der Schrift so sehr in Frage gestellt, dass sich radikale Reformatoren wie Karlstadt oder Calvin sogar zu einem Bildersturm in den Kirchen hinreißen ließen. Die Gegenreformation im Barock sollte später wieder auf die Dominanz der Kirchenmalerei setzen.
Luthers Kopf als Dudelsack
Andererseits ist die sinnliche und polemische Kraft des Bildes im reformatorischen Schlagabtausch trotzdem heftig genutzt worden. In diesem Schlagabtausch spielten die schnellen Massenmedien des Flugblatts und der Flugschrift als Nebenprodukte der Druck-Revolution große Rollen. Sie entsprachen der Boulevard-Presse heutiger Tage und verkürzten komplexe theologische Dispute auf die grelle Schlagzeile oder den agitatorischen Stich. Da trat dann der Papst als Esel auf oder Luthers Kopf mutierte zum Dudelsack, auf dem Satan ein Liedchen spielt. Der künstlerische Holzschnitt, der sich gut in den Druckstock fügte, stand am Anfang einer Entwicklung volkstümlicher Medien, an deren Ende heute die Comic Strips stehen.
Die Post ist da
So schwoll die Reformation durch die Druckerzeugnisse und schwoll die Menge der Druckerzeugnisse durch die Reformation an. Sie gerieten in beschleunigten Umlauf durch ein weiteres Medium, das in dieser Zeit seine Strukturen aufbaute: das organisierte Postwesen. Kaiser Maximilian I. förderte den ununterbrochenen Transport von Informationen über weite Strecken, um die Verwaltung seines großen Territoriums zu erleichtern. Angeblich konnte ein damaliger Postbote seine Mail zur Sommerzeit in nur fünf Tagen von Brüssel nach Innsbruck befördern. Bedenkt man, wie wichtig der Austausch von Texten – zum Beispiel zwischen Rom und Wittenberg – für die Reformation war, muss man die Bedeutung auch dieses neuen, schnellen Kommunikationsstrangs für die historischen Ereignisse anerkennen.
Medien-Mönch Martin
Zwar mag die Behauptung des Medienwissenschaftlers Werner Faulstich, die Brisanz der Reformation sei weniger theologischer und religiöser als mediengeschichtlicher Natur, übertrieben sein. Doch dass sich der Erfolg der Reformation dem direkten Kommunikationsprozess mit den medialen Umbrüchen an der Wende vom 15. zum 16. Jahrhundert verdankt, ist kaum zu übersehen. Martin Luther hat die Medien seiner Zeit geschickt genutzt. Kein Wunder, dass er auch als Medienprodukt "Filmfigur" in die Gegenwart ragt.
Autor/in: Carl Gula, 21.09.2006