Berlinale 2004 - Ein Nachschlag
Die Zeugen (Foto: Berlinale)
Samaria (Foto: Berlinale)
Mit Amtsantritt des Festivalleiters Dieter Kosslick vor zwei Jahren setzte eine Profilierung und "Repolitisierung" des wichtigsten deutschen Filmfestivals ein. Das trägt nun Früchte – auch für den deutschen Film, der schon immer besser war, als die früher ausgewählten Wettbewerbsbeiträge es vermuten ließen. Erstmals seit vielen Jahren hat mit
Gegen die Wand von Fatih Akin wieder ein deutscher Film überraschend, aber nicht unverdient, einen "Goldenen Bären" gewonnen. Bei der Vielzahl neuer Programmreihen und Länderschwerpunkte blieb allerdings die Überschaubarkeit des Angebots auf der Strecke, und für das Fachpublikum blieb oft dem Zufall überlassen, ob es einen bestimmten Film sehen konnte oder wegen hoffnungsloser Überfüllung eben nicht. Es folgt eine Auswahl besonders diskussionswerter Filme aus verschiedenen Programmreihen. Krieg und Frieden
Svjedoci (Die Zeugen) von Vinko Bresan, ausgezeichnet mit dem Friedensfilmpreis, spielt 1992 im kroatisch-serbischen Krieg. Er erzählt in formal bestechender Weise davon, wie durch erlittenes Unrecht und hohen Blutzoll Hass und Gewalt aufbrechen, aber auch davon, wie einige Menschen selbst in solchen Extremlagen ihre Menschlichkeit zu bewahren suchen. Drei kroatische Soldaten fern der Front wollen sich an einem serbischen Kaufmann in ihrem Heimatdorf rächen und sein Haus in die Luft sprengen. Anders als erwartet ist der Kaufmann jedoch zu Hause und wird erschossen. Seine Tochter, ein kleines Mädchen, das erst gegen Ende des Films im Bild zu sehen ist, hat alles mitbekommen und soll als unliebsame Zeugin beseitigt werden. Der Riss zwischen Befürwortern und Gegnern dieses geplanten Mordes entzweit auch eine Familie und insbesondere zwei Brüder. – Längst vorbei ist der Vietnam-Krieg im norwegisch-amerikanischen Wettbewerbsbeitrag
Beautiful Country von Hans Petter Moland, aber er hat Spuren hinterlassen und ebenfalls eine Familie zerstört. Ein junger Vietnamese, der als Mischlingskind einer Einheimischen und eines GIs bei Pflegeeltern aufgewachsen ist, macht sich auf die Suche nach seiner in Ho-Chi-Minh-Stadt arbeitenden Mutter und seinem amerikanischen Vater, der zwanzig Jahre zuvor spurlos verschwunden war. Als Flüchtling kommt er zusammen mit seinem kleinen Halbbruder nach Malaysia und über Menschenhändler schließlich in die USA. Individuelle Familientragödie und gesellschaftliche Realität in den verschiedenen Ländern verdichten sich über eindrucksvolle Bilder zu einer anrührenden Geschichte eines Menschen auf der Suche nach seinen Wurzeln und seiner Identität.
25 Grad im Winter (Foto: Berlinale)
Schuld und Sühne
1995 machten sich in Südafrika Wahrheitskommissionen an die Arbeit, um die Verbrechen des Apartheid-Regimes in der direkten Gegenüberstellung von Tätern und Opfern aufzudecken und jenseits westlicher Sühnevorstellungen eine Form von Verständnis und Vergebung seitens der überlebenden Opfer anzustreben. Der britische Filmemacher John Boorman hat in
Country of my Skull authentische Berichte dieser Kommissionen mit einer Liebesgeschichte zwischen einem schwarzen Reporter aus Washington und einer weißen Schriftstellerin aus Südafrika verbunden. Aus dem brisanten und wichtigen politischen Thema wäre ein überzeugender Film geworden, hätte Boorman stärker auf das Urteilsvermögen des Publikums vertraut. Stattdessen schreibt der Film sämtliche Gefühlsregungen mit melodramatischen Mitteln vor beziehungsweise lässt diese über die beiden Hauptfiguren ausagieren. – Wesentlich subtiler und wortkarger ging der Koreaner Kim Ki-Duk in
Samaria (Die Samariterin) die Frage nach Schuld und Sühne an. Es geht um käuflichen Sex mit Minderjährigen. Für seinen Film erhielt er den "Silbernen Bären" für die beste Regie. Ein Polizist entdeckt zufällig, dass sich seine minderjährige Tochter mit älteren Freiern einlässt. Er rächt sich in Selbstjustiz an diesen Männern und scheut auch vor brachialer Gewalt nicht zurück. Die Tochter wiederum bot sich diesen Freiern kostenlos an, nachdem die als Prostituierte arbeitende Freundin sich in einen von ihnen verliebt hatte und nach einer Polizeirazzia einen tödlichen Fenstersturz erlitt. In verstörenden Bildern zeigt der Film, wie Vater und Tochter gleichermaßen an ihrer Methode der "Wiedergutmachung" von Unrecht scheitern. – In Lügen und Selbsttäuschung verstricken sich auch die Figuren im Epsiodenfilm
Om Jag Vänder Mig Om (Morgengrauen) von Björn Runge ("Silberner Bär" für eine herausragende künstlerische Leistung und "Der blaue Engel" für den besten europäischen Film). Ein Mann, der seine Frau betrügt, ein überforderter Familienvater, der nie Zeit für seine Familie findet und eine verlassene Frau, die sich an ihrem Mann und seiner Geliebten rächen möchte: Sie alle finden erst nach einem dramatischen, schmerzhaften Erkenntnisprozess zu innerer Freiheit und einem möglichen Neuanfang.
Ich liebe meine Arbeit (Mobbing) (Foto: Berlinale)
Multikulturelle Liebesbeziehungen
Gleich drei Wettbewerbsbeiträge thematisierten Integrationsprobleme und kulturelle Konflikte von Migrantenkindern der zweiten Generation. In
Ae Fond Kiss von Ken Loach (Preis der Ökumenischen Jury, Wettbewerb) verliebt sich der Sohn streng muslimischer pakistanischer Einwanderer in Großbritannien in eine katholische Irin. Ihre Liebe droht am Widerstand der pakistanischen Familie zu zerbrechen, aber auch an der Ignoranz eines katholischen Priesters. Loach beleuchtet das Problem der kulturellen und konfessionellen Mischehe sehr differenziert aus der Sicht aller Beteiligten. – Unterhaltsamer und witziger nähert sich die belgisch-französisch-spanische Koproduktion
25 degrés en hiver (25 Grad im Winter) von Stéphane Vuillet dem Thema. Die in Brüssel spielende, bis ins Absurde überzogene Komödie hat den Leserpreis der "Berliner Morgenpost" gewonnen. Durch die Begegnung mit einer illegal eingereisten, ukrainischen Immigrantin, die in Belgien ihren Mann sucht, finden ein von der Frau verlassener Spanier und seine kleine Tochter ins wahre Leben zurück. – Nicht von charmanter Unbeholfenheit sondern von Trauer und Wut gezeichnet sind die beiden Hauptfiguren im deutschen Wettbewerbsbeitrag
Gegen die Wand des in Hamburg aufgewachsenen Deutsch-Türken Fatih Akin. Eine an den strengen Moralvorstellungen ihrer türkischen Familie verzweifelnde junge Frau überredet einen um Jahre älteren, türkischstämmigen Säufer zu einer Scheinehe, um dem beengenden Elternhaus entfliehen zu können, ohne die Familienehre zu zerstören. Aus der Ehe auf dem Papier entwickelt sich langsam eine tiefe Zuneigung. Doch dann tötet der Mann aus Eifersucht einen Liebhaber der Frau und das gemeinsame Glück rückt in weite Ferne.
Magnifico (Foto: Berlinale)
Panorama-Highlights
Wenigstens zwei Filme aus dem Panorama sollen hier erwähnt werden. Der israelische Film
Walk on Water von Eytan Fox ist ein spannender Agententhriller über den israelischen Geheimdienst auf der Suche nach den letzten noch lebenden Naziverbrechern. Widerwillig heftet sich ein bisher mit der Eliminierung arabischer Gegner beauftragter Agent an ein deutsches Geschwisterpaar (er ist ein homosexueller Lehrer, sie lebt in einem israelischen Kibbuz), um von ihnen etwas über den Verbleib des nach dem Krieg nach Südamerika geflohenen Großvaters zu erfahren. Es kommt tatsächlich zu einem Showdown mit dem alten Mann, doch diese Begegnung verläuft für alle Beteiligten ganz anders als erwartet: Vergangenheitsbewältigung und deutsch-israelische Beziehungen aus einer ungewöhnlichen Perspektive, die zur Auseinandersetzung anregt. –
Mi Piace Lavorare (Mobbing) /Ich liebe meine Arbeit (Mobbing) von Francesca Comencini (Preis der Ökumenischen Jury, Panorama) greift ein Thema auf, an das sich die bisher noch kaum ein Film herangetraut hat: die subtilen Mobbing-Praktiken eines Unternehmens, das nach der Übernahme durch eine andere Firma gezwungen ist, sich möglichst billig von einem Teil der Belegschaft zu trennen . In diesem Fall geht das auf Kosten einer allein erziehenden Frau und ihrer Tochter, die von einem Tag zum anderen schuldlos zwischen alle Stühle gerät und schließlich vor dem psychischen Zusammenbruch steht. In ihrem verletzten Selbstwertgefühl und in ihrer Hilflosigkeit lernt sie erst langsam, sich auch zu wehren.
Die Blindgänger (Foto: Berlinale)
Preisträger Kinderfilm
Den meisten Fachbesuchern/innen, die sich auf den Wettbewerb oder das Panorama konzentrieren, wissen gar nicht, dass auch die Kinderfilmsektion Filmkunstwerke zu bieten hat, die so manchen Film der anderen Schienen mühelos in den Schatten stellen.
Magnifico von Maryo J. de los Reyes handelt von einem neunjährigen Jungen, der von seiner in Armut lebenden Familie und den Dorfbewohnern kaum beachtet wird. Fast bis über seinen Tod hinaus kümmert er sich selbstlos um das Wohlergehen der Menschen in seiner Umgebung und packt die Probleme des Alltags mutig an, von der Sorge um seine behinderte Schwester bis zur bevorstehenden aber unerschwinglich teuren Bestattung der schwer kranken Oma. Ganz unspektakulär und mit leisem Humor vermittelt dieser philippinische Film unmittelbare Mitmenschlichkeit und tiefe Gefühle, die in anderen Sektionen oft fehlten. – Mit unbekannten Welten und einem distanzierten Blick auf die scheinbar so selbstverständliche Welt der "Guckis" machte der deutsche Beitrag
Die Blindgänger von Bernd Sahling bekannt. Denn das einzige, worin sich die beiden 13-jährigen Titelheldinnen von anderen Mädchen ihres Alters unterscheiden, ist der Umstand, dass sie blind sind. Die Begegnung der einen mit einem jungen Russlanddeutschen führt zu einer Reihe von Verwicklungen, in deren Verlauf die beiden Freundinnen lernen, ihre besondere Begabung für Musik gezielt einzusetzen. – Die beiden Filme wurden übereinstimmend sowohl von der Kinderfilmjury als auch von der Erwachsenenjury (Preise des Deutschen Kinderfilmhilfswerks) mit dem "Gläsernen Bären" bzw. mit einer Lobenden Erwähnung ausgezeichnet. Siehe auch den Berlinale-Bericht zur neuen Jugendfilmreihe "14plus" in Kinofenster-Ausgabe 2-04.
Autor/in: Holger Twele, 21.09.2006