Hintergrund
Justitia und die Gutachter
Der US-amerikanische Spielfilm Das Urteil - Jeder ist käuflich spielt mit dem Gedanken, ein wichtiges Urteil in großen Wirtschaftsprozessen könne beispielsweise durch die gezielte Beeinflussung der Geschworenen "erkauft" werden. Wie aber sieht es in derartigen Fällen im deutschen bzw. im ähnlich gelagerten österreichischen Rechtswesen aus, in denen es keine Geschworenen gibt? Welche Faktoren können bei uns die Urteilsfindung beeinflussen? Ist Justitia nur blind, weil sie ohne Ansehen der Person zu urteilen hat?
Gutachter/innen, Sachverständige und Experten/innen aller Art geben in deutschen Gerichtssälen eine Dauervorstellung: Psychiater/innen bescheinigen Angeklagten, zum Zeitpunkt der Tat nicht zurechnungsfähig gewesen zu sein. Ingenieure/innen mühen sich um den Nachweis, dass bei Unfällen und Katastrophen niemand verantwortlich gemacht werden kann. Immer wieder wird der Verdacht laut, dass Prozesse eingestellt oder Angeklagte freigesprochen werden, weil sie das Geld und die besseren Gutachter/innen auf ihrer Seite hatten.
Der Contergan-Prozess
So endete der Contergan-Prozess 1970 – zehn Jahre nachdem das Schlafmittel, das bei Schwangeren missgebildete Kinder zur Folge hatte, vom Markt genommen worden war – mit einer juristischen Bankrotterklärung. Zwar hat sich die Herstellerfirma Grünenthal nach Auffassung des Aachener Landgerichts mangelnder Sorgfalt bei der Prüfung des Medikaments schuldig gemacht. Doch eine individuelle Schuld der Geschäftsführer nachzuweisen, hätte ein Prozessende noch länger hinausgezögert. Grünenthal hatte 20 Verteidiger und über 60 Gutachter aus dem In- und Ausland aufmarschieren lassen. Die Richter sprachen die Angeklagten wegen "geringer Schuld" und wegen "geringer Bedeutung für die Öffentlichkeit der Bundesrepublik Deutschland" frei – bei 5.000 Contergan-Krüppeln, von denen die Hälfte bis heute bereits gestorben ist. Die andere Hälfte erhält – nach Unterzeichnung einer Erklärung, nicht weiter gegen Grünenthal-Chemie zu klagen – eine monatliche Leibrente zwischen 100 und maximal 500 Euro, wovon der Bund die Hälfte bezahlt.
Der Prozess nach dem Eschede-Unglück
Am 3. Juni 1998 entgleiste der Intercity Express 884 "Wilhelm Conrad Röntgen" auf dem Weg von München nach Hamburg nahe der niedersächsischen Gemeinde Eschede. Dabei starben 101 Menschen, 105 wurden verletzt. Es war die größte Eisenbahnkatastrophe in der Geschichte der Bundesrepublik. Die Staatsanwaltschaft Celle erhob Anklage gegen drei Verantwortliche, nachdem sie mehr als 600 Aktenordner mit Unterlagen ausgewertet hatte. Beschuldigt wurden ein leitender Bahndirektor des Eisenbahnzentralamtes Minden, ein Mitarbeiter sowie der Konstruktionsleiter des Herstellerwerks der Radreifen in Bochum. Am 8. Mai 2003 stellte das Landgericht Lüneburg den Strafprozess mit der Begründung ein, den drei Angeklagten könne nicht nachgewiesen werden, dass sie für das Unglück verantwortlich seien. Trotz (oder gerade wegen?) zahlreicher Sachverständiger, deren Gutachten zum Teil erheblich voneinander abweichen, war die Schuld der Angeklagten nicht eindeutig festzustellen. Das Gericht verurteilte sie lediglich zu einer Geldbuße in Höhe von jeweils 10.000 Euro. Die Verfassungsbeschwerde, die Angehörige der Opfer einreichten, wurde abgewiesen.
Das Kaprun-Desaster
Drei Jahre nach dem Gletscherbahn-Unglück von Kaprun im November 2000 wurden alle 16 Angeklagten vor Gericht von jeglicher Schuld freigesprochen. Sie trügen keine Verantwortung für die Katastrophe und seien deshalb freizusprechen, sagte Richter Manfred Seiss Anfang Februar 2004 bei der Urteilsverkündung in Salzburg. Die Staatsanwaltschaft kündigte Berufung an. Bei dem Brand in der Gletscherbahn am österreichischen Kitzsteinhorn waren 155 Menschen gestorben, darunter 37 Deutsche. Das Gericht in Salzburg stützte sich bei seinem Urteil auf die Aussagen von 95 Zeugen/innen sowie auf sieben Expertengutachten. Demnach war das Unglück durch einen defekten Heißluft-Ofen in der Gletscherbahn ausgelöst worden. Den Experten/innen zufolge entzündete sich in dem überhitzten Ofen ein Feuer, als Öl aus dem hydraulischen Bremssystem auslief. Der Zug bliebt im Tunnel stehen, die Flammen breiteten sich rasend schnell aus, die Urlauber waren in der Feuerhölle gefangen, weil sich die Türen der Seilbahn nicht von innen öffnen ließen. Im Zweifel für die Angeklagten – war da wirklich keiner verantwortlich?
Das deutsche Produkthaftungsgesetz
Der Contergan-Prozess war der erste bedeutende Wirtschaftsprozess, der in Deutschland um Entschädigungen geführt wurde. 1989 verabschiedete der Bundestag das Produkthaftungsgesetz (ProdHaftG). Es regelt die Haftung des Herstellers für Schäden, die durch Fehler eines Produktes verursacht werden. Die Verpflichtung zu Schadenersatz kann schon gegeben sein, wenn ein Produkt aufgrund der Form seiner Darbietung bei einem nichtgewerblichen Endverbraucher eine tatsächlich nicht vorhandene Vorstellung über die Sicherheit des Produktes erweckt. So weit, so klar. Doch die Ersatzpflicht des Herstellers ist unter anderem dann ausgeschlossen, wenn "er das Produkt nicht in den Verkehr gebracht hat; nach den Umständen davon auszugehen ist, dass das Produkt den Fehler, der den Schaden verursacht hat, noch nicht hatte, als der Hersteller es in den Verkehr brachte; oder der Fehler nach dem Stand der Wissenschaft und Technik in dem Zeitpunkt, in dem der Hersteller das Produkt in den Verkehr brachte, nicht erkannt werden konnte." – Solche Formulierungen scheinen wie geschaffen für die Gutachter/innen und Sachverständigen. Wie will ein Gericht nachprüfen, ob der Nachweis, dass ein Fehler aufgrund des "Standes der Wissenschaft und Technik" nicht erkannt werden konnte, stichhaltig ist? Die Richter/innen sind weiter auf sie angewiesen: Gutachter/innen, Sachverständige, Experten/innen – sie bestimmen mehr und mehr, was Justitia sieht und wo sie "blind" bleibt.
Autor/in: Volker Thomas, 21.09.2006