Das Fenster öffnet sich einem leuchtenden Morgen. Die Kamera stürzt sich ins Freie und nimmt den Träumenden mit, auch wenn sein Körper unsichtbar bleibt. Der Träumende fliegt über einen Wald hinweg, über steinige Hügel, das ist es nicht, was er sucht. Unbeirrbar steuert er den Horizont an, das blaue Rauschen hinter der Landschaft, das Versprechen, das in der Luft hängt. Da ist es, das Meer.
Meeresrauschen
Das Meer, sagt der querschnittsgelähmte ehemalige Seemann Ramón, habe ihm alles gegeben und alles genommen. Er weiß das, weil er nach einem Sprung ins Wasser die Kontrolle über seinen Körper verloren hat. Wenn er die Augen zumacht, kann er die Szene sehen: Das Meer gleißt und lockt wie das Mädchen auf dem benachbarten Felsen, ein Moment der Verzauberung, der große kräftige junge Mann verliert den Boden unter seinen Füßen und springt. Das Meer wartet nicht, es hat keine Geduld mit dem Opfer der Sirene, es zieht seine Wellen aus der kleinen Bucht zurück und empfängt den Tauchenden mit Härte. Für einen Moment ist alles klar. Der Körper ist leblos, der Kopf angeschlagen, die Stille ist vollkommen. Das ist der Moment, in dem der 23-jährige Ramón seinen Tod willkommen heißt und verpasst. Ein Mann zerrt seinen Kopf aus dem Wasser. Das Leben reißt nicht ab, aber auch nicht die Qual, am Leben zu sein.
Entgrenzungen und Begrenzungen
Das Meer gibt Ramón noch immer, was sein Herz begehrt, doch nur in seiner Fantasie. Der spanische Regisseur Alejandro Amenábar hat seinen Film, der auf dem authentischen Fall des querschnittsgelähmten Gerechtigkeitssuchers Ramón Sampedro basiert, in Cinemascope gedreht, dem "Schlangenformat", wie es in Godards berühmtem Film
Die Verachtung zärtlich genannt wird. Das Schlangenformat dehnt sich für Landschaftsaufnahmen bis in die Unendlichkeit, es umfasst Himmel und Erde mit seinen Enden, es setzt dem Menschen den Kopf zurecht, der sich als das Maß aller Dinge wahrnimmt. In Ramóns emotionalen Höhenflügen berauscht sich die Kamera an der schieren Fülle, der Weite, der Ahnung, hinter dem Horizont ein anderes Meer, eine andere Welt zu entdecken. Was aber, wenn der ergraute Ramón nach siebenundzwanzig Jahren des Leidens immer noch in seinem Bett liegt und es nie verlassen kann? Dann wird das Cinemascope zu einem Trauerspiel, zu einer hartnäckigen Aufforderung, sich den verlorenen Raum zurückzuerobern. "Das Meer hat mir alles genommen", diesen Satz muss Ramón wiederholen, damit die Menschen, die ihn umgeben und alle ihren eigenen Standpunkt haben, seine tiefere Bedeutung verstehen.
Pflegende und Liebende
Wie bei seinen bisherigen Filmen hat Alejandro Amenábar auch für den Oscar-prämierten
Das Meer in mir Musik und Drehbuch selbst geschrieben. Die Musik spielt für den Seemann Ramón, der in den Jahren der körperlichen Erstarrung einen beweglichen Geist entwickelt hat, eine große Rolle. Ramón hat es sich angewöhnt zu lächeln, wenn er weinen möchte. Die Musik, die er hört, weint für ihn. Wie Traum und Literatur weitet sie seine Perspektive und nährt seinen Wunsch, endlich sterben zu dürfen. Das alte Haus, in dem Ramón von seiner Schwägerin Manuela hingebungsvoll gepflegt wird, gehört seinem Bruder José. Ramóns 16-jähriger Neffe Javi verehrt seinen Onkel, kommt aber mit dem betagten Großvater nicht zurecht. Es gäbe genug Konflikte, aber sie werden aufgesogen von Ramóns Kampf um den eigenen Tod. Sein Bruder steht als Mann der ländlichen Tradition und der gläubigen Fügung ins Schicksal diesem Wunsch so hilflos gegenüber, dass er Ramón eine Rechnung aufmacht: Habe der Kranke nie darüber nachgedacht, dass ihn zu pflegen für alle anderen einen eigenen Verzicht im Leben bedeute? Sei ihr Leben so unwert, dass Ramón das seine verschleudern wolle?
Die Lebensbefürworterin und die Todgeweihte
Auch die Fabrikarbeiterin Rosa, die den ebenso charismatischen wie charmanten Ramón in einem Fernsehinterview zum Thema Sterbehilfe gesehen hat, will den Todessehnsüchtigen wieder für das Leben begeistern. Sie besucht ihn und verliebt sich sogleich. Rosa hat zwei uneheliche Kinder und eine "Begabung", sich selbst schlecht zu machen. An Ramóns Bett blüht sie auf. Die Anwältin Julia, die Ramón bei einer Klage gegen das vorherrschende Euthanasie-Verbot bei Gericht vertreten wird, hat andere Gründe, Ramón zu lieben. Sie bewundert seine überschwängliche Liebe zu den schönen Künsten wie seine Unbeugsamkeit und die melancholischen Gedichte, die er beim Warten auf den Tod geschrieben hat. Julia leidet unter Multipler Sklerose und die Krankheit wird zuerst ihren Geist, dann ihren Körper töten. "Wer mich liebt", sagt Javier Bardem in der Rolle des Ramón und lächelt auf seine unnachahmliche Weise dem Leben in Gestalt seiner beiden unterschiedlichen Verehrerinnen zu, "der hilft mir, zu sterben".
Recht und Gewissen
Das Gerichtsverfahren nimmt in diesem sensiblen, für alle Nuancen und Zweifel offenen Film nur einen geringen Raum ein. Wie der historische Ankläger gegen klerikale Despotie und staatliche Selbstherrlichkeit verliert Ramón seinen Prozess, nicht aber Mut und Findigkeit. Am Ende wird es ihm gelingen, sich mit Hilfe einer Liebenden umzubringen, ohne die ihm Helfenden zu belasten. Wie es auch tatsächlich geschehen ist, nimmt dabei der Sterbende ein letztes Plädoyer für die Freiheit zum Tode mit der Videokamera auf. Es liegt kein Triumph in dieser zugleich bedrückenden und befreienden Szene. Die Trauer überwiegt, im Sterben allein sein zu müssen, nur getröstet von der Kraft des eigenen guten Gewissens. Es ist keine Frage, auf welcher Seite Alejandro Amenábar steht. Die Natur kennt das Stillleben nicht, das ist Sache der Kunst und der Moral. Das Meer selbst mit seinem Fließen und Sehnen macht sich in diesem großartigen Film zum Anwalt des Stillgestellten, der von einem rigiden Gesetz nicht mehr im eigenen Körper gefangengehalten werden will. Es gibt andere Optionen, wie eine äußerst komische Szene zeigt, in der ein gleichfalls gelähmter Bischof sich im Rollstuhl zu Ramón bringen lässt, um zwischen zwei Stockwerken an einer Treppe zu scheitern und ein theologisches Streitgespräch über Gottes Vorhersehung mit ihm brüllend auszufechten.
Das Meer in mir ist weit davon entfernt, die Morde zu befürworten, die nationalsozialistische Ärzte an vermeintlich unwertem Leben begingen. Euthanatos, das ist im Griechischen ein Milder. Amenábar rückt diese Milde in die Nähe einer Liebe, die den größten Wunsch des Geliebten über die eigene Hoffnung auf Liebe stellt.
Autor/in: Heike Kühn, 01.03.2005