Der Berliner Filmregisseur und Produzent Hubertus Siegert beobachtete und filmte ein halbes Jahr lang den Alltag einer fünften Schulklasse an der Fläming-Grundschule im Berliner Stadtteil Schöneberg. Siegert verdichtet den Alltag des Schullebens in der Montage zu einem Gesamtbild der vielen Facetten des Lernens und der damit verbundenen Anstrengung und Lust. Der Film beginnt mit dem ersten Tag des zweiten Halbjahres 2004. Es ist Winter, fast noch dunkel, und Marvin, Christian, Johanna, Luca und Dennis kommen gemeinsam mit ihren fünfzehn Mitschülern/innen und den Zuschauenden am frühen Morgen in der Schule an. In der fünften Klasse der Fläming-Grundschule werden behinderte und nichtbehinderte Kinder gemeinsam unterrichtet. Schulkonzept und Art des Unterrichtens unterscheiden sich deutlich von den meisten anderen Schulen in Deutschland. Das als erfolgreich und nachahmenswert geltende Modell wurde bereits 1975 entwickelt. Vier der zwanzig Elfjährigen in der dokumentierten Klasse sind einfach bis mehrfach behindert. Die Klassenleiterin Frau Haase erhält während des Unterrichts Unterstützung von zwei Assistentinnen. In problematischen Fällen können weitere Mitarbeiter/innen der Schule hinzugezogen werden.
Das dramaturgische Konzept
Mit einer Kamera auf Augenhöhe der Kinder, mit Großaufnahmen und Totalen gelingt es Hubertus Siegert, die Stimmung einzelner Kinder ebenso einzufangen wie die der gesamten Klassengemeinschaft. Das Lernkonzept wird nicht beschrieben, die Unterrichtsziele werden nicht dargelegt. Stattdessen beobachten die Zuschauenden Verhalten und Interaktion, hören Kommentare einiger Kinder zu bestimmten Situationen, erfahren etwas über ihre Träume oder Ängste, ihr Verhältnis zu Klassenkameraden/innen und zur Lehrerin, ihre Motivation und Meinung zum Schulleben. Der Regisseur konzentriert sich ganz auf die Kinder und zeigt einen wesentlichen Teil ihres Lebens: das Leben und die Lebendigkeit in der Klasse. Die Lehrerin und die Assistentinnen werden in typischen Situationen gezeigt, geben jedoch im Gegensatz zu den Kindern keine Auskunft über sich. Nur ein einziges Mal spricht die Lehrerin direkt in die Kamera, erläutert einen Konflikt, den die Zuschauenden kurz zuvor sahen, und spricht kurz über ihre Ungeduld und ihre hohen Leistungsforderungen an die Kinder.
Der Unterricht
Das zweite Schulhalbjahr beginnt mit einem Projekt, das den Unterricht lange Zeit begleitet: Die Elfjährigen erarbeiten das Theaterstück "Das Mädchen aus Harrys Straße". Es handelt von zwei Freunden und einem jüdischen Mädchen, von Gefühlen und persönlichen Erkenntnissen in der Zeit des Nationalsozialismus. Die Kinder arbeiten in kleinen Gruppen, verteilen selbstständig die Rollen, improvisieren und erproben Dialoge und Inszenierung. Die Art der Gruppenarbeit fasziniert die Zuschauenden. Trotz höchst unterschiedlicher Charaktere scheinen alle zu wissen, dass jede/r gleiche Rechte und Pflichten hat. Die Verbindung von inhaltlicher Arbeit, Lernleistung und Teamfähigkeit mit Schwächeren, auf die der Unterricht in dieser Schule abzielt, beschränkt sich aber nicht auf Projektarbeit. Ganz gleich, ob im Mathematikunterricht, in Deutsch oder Sport, immer werden auch Gruppenarbeiten gefordert, bei denen die nichtbehinderten Schüler/innen sich darum bemühen müssen, das Wissen, dass sie sich aneignen, auch den behinderten Klassenkameraden/innen zu vermitteln. Einigen nichtbehinderten Schülern/innen scheint es schwerer zu fallen, Geduld mit den Langsamen aufzubringen, andere haben bereits ein hohes Maß an sozialer Kompetenz erreicht. Dass diese auch ein wesentliches Ziel der gemeinsamen Arbeit ist, wird bei der Besprechung der Gründe für die Notengebung deutlich.
Unterschiedliche Persönlichkeiten
Fünf Kinder der Klasse werden eingehender beobachtet. Ihre gänzlich verschiedenen Persönlichkeiten machen noch einmal deutlich, dass jedes Kind, ob mit oder ohne Behinderung, individuelle Schwächen und Stärken hat, spezielle Zuwendung benötigt und auch eine gute Leistung erbringen kann: Marvin lernt und spricht langsam. Er hat Mühe, sich Fakten zu merken und sie korrekt wiederzugeben. Sein Traum ist es, später Feuerwehrmann zu werden. Seine Ansichten über Lernen und Leben sind faszinierend. Er nimmt kein Blatt vor den Mund, kennt seine Schwächen und geht selbstbewusst mit ihnen um. – Christian ist neu in der Klasse und erprobt unterschiedliche Verhaltensweisen, um sich in die Gruppe zu integrieren. Er hat einige Konflikte durchzustehen, denn seine Art eckt vielfach an. Eine Aufstellung durch den Schulpsychologen gibt der ganzen Klasse die Möglichkeit, sich mit Christian "besser auszukennen". Auch mit Frau Haase hat Christian einige Konflikte durchzustehen. Seine Schwierigkeiten führen zu schlechteren Noten, als er sie von der alten Schule gewohnt ist. Trotzdem findet er die Art des Unterrichts an dieser Schule gut. – Johanna lernte spät laufen und sehen und bewegt sich manchmal etwas unbeholfen. Sie stockt gelegentlich bei Aufgaben, die ihr gestellt werden, aber sie lässt einen festen Willen spüren. Der Ehrgeiz, zu lernen und die Dinge zu können ist immer spürbar und sehr berührend. Sie bekommt sowohl von der Lehrerin als auch von ihren Mitschülern/innen viel Unterstützung ihres Selbstbewusstseins und ihrer Selbstständigkeit. – Luca ist eine gute Schülerin, trotzdem jedoch immer aufgeregt. Sie spricht über ihre Gefühle vor Klassenarbeiten und ihre Fantasie von der Lehrerin, der sie einmal zeigt, wie sich die Ängste anfühlen. Unübersehbar hat sie hohe soziale Kompetenz und ein gutes Gespür für die anderen. – Dennis ist einer der besten in der Klasse und weiß das auch. Er ist leichter als andere genervt, wenn die Arbeit nicht vorangeht. Er weist seine Mitschüler/innen zurecht und sagt ihnen auch schon mal, dass er der Bessere sei. Frau Haase ist ihm gegenüber manchmal gereizt, weil sie seine Art nicht immer schätzt, und sie sucht öfter die Auseinandersetzung.
Die Klassenleiterin
Die 5d ist keine Klasse, die Leistung zugunsten sozialen Engagements zurückstellt, im Gegenteil: Frau Haase hat hohe Ansprüche an Lernergebnisse und Bemühungen ihrer Schüler/innen. Sie ist eine eher strenge Lehrerin, der man die Leidenschaft für ihren Beruf anmerkt. Sie will Fähigkeiten und Wissen vermitteln und fordert von den Kindern Aufmerksamkeit und Mitdenken. Dabei achtet sie auf jeden einzelnen und seine Grenzen. Gelegentlich wird sie unduldsam. Sowohl eigene Schwächen als auch Schwächen der Kinder werden von ihr erkannt, kommentiert und beurteilt. Ob bei den Proben für das Theaterstück oder bei Konflikten im Klassenzimmer: Frau Haase ist immer bemüht, zuzuhören und ihre Worte gezielt zu setzen. Wenn der Geduldsfaden reißt, können ihre Worte scharf werden, aber sie kennt offenbar ihre eigenen Schwächen und stellt sich der Diskussion mit den Kindern. Sie übt mit den Schülern/innen wiederholt selbstbewusstes Auftreten: lautes Sprechen, deutliche Worte, das Vertreten der eigenen Ansichten.
Ein Film über Kinder (auch) für Kinder
Hubertus Siegert ist mit
Klassenleben ein Film gelungen, der pädagogische Ideen und Schulalltag in einem spannenden, oft berührenden Bogen verdichtet. Man sieht diesen Kindern sehr aufmerksam zu, folgt ihren Anstrengungen aufmerksam und anteilnehmend. Auch auf Kinder dürfte sich diese Aufmerksamkeit, die einem wichtigen Teil ihres Lebens gewidmet ist, übertragen. Identifikation ist beinahe ständig möglich, eine Übertragung auf und ein Vergleich mit eigenen Erlebnissen leicht. Am Schluss des Filmes gibt es Zeugnisse, die Ferien beginnen. Noch einmal beobachtet die Kamera den Aufbruch dieser Kinder, welche sie ein halbes Jahr lang in Unterricht und Hofpausen, bei schwierigen Situationen und gemeinsamem Spaß begleitet hat. Der Film entlässt die Zuschauenden mit der Zuversicht, dass dieses Klassenleben allen Schülern/innen etwas ganz Wesentliches für das Leben vermittelt hat.
Autor/in: Rotraut Greune, 01.09.2005