Hintergrund
Zwischen Fakten und Fiktion: historische Spielfilme zum Nationalsozialismus
Florian Gallenbergers Film
John Rabe (D 2009) reiht sich ein in eine lange Folge von Kinofilmen, die Erlebnisse historisch verbürgter Personen zur Zeit des Nationalsozialismus behandeln. Doch auch wenn sich
Schindlers Liste (Schindler's List, Steven Spielberg, USA 1993),
Aimée & Jaguar (Max Färberböck, D 1999),
Der Pianist (The Pianist, Roman Polanski, F, D, PL, GB 2002),
Der Untergang (Oliver Hirschbiegel, D 2004),
Sophie Scholl – Die letzten Tage (Marc Rothemund, D 2004) oder auch
Operation Walküre (Valkyrie, Bryan Singer, USA 2008) – um nur einige Titel zu nennen – auf tatsächliche Begebenheiten berufen: Sie alle haben gemein, dass sie sich konsequent im Rahmen des populären Erzählkinos bewegen. Und das bedeutet: Sie folgen bestimmten dramaturgischen Regeln – wie
Exposition, Spannungssteigerung und Auflösung. Diese stehen zumindest in einem Spannungsverhältnis, oft aber sogar im Widerspruch zum – von den Filmemachern/innen oft explizit geäußerten – Anspruch, ihre Geschichten so wirklichkeitsnah wie möglich zu erzählen.
Die Regeln der Dramaturgie
Tatsächlich wird das historische Ausgangsmaterial in den Filmen keineswegs nur gestaltet. Um auf massenkompatible Weise zu unterhalten, wird vereinfacht, zugespitzt und bei Bedarf sogar ergänzt. So ist in
John Rabe etwa die Figur des strammen Nationalsozialisten Fließ, der Rabes Nachfolge als Leiter der Siemens-Niederlassung in Nanjing antreten soll, aus dramaturgischen Gründen hinzugefügt worden. Als Gegenspieler des sich ebenfalss mit dem NS-Staat identifizierenden Helden erfüllt Fließ einerseits den Zweck, Spannung aufzubauen. Vor allem aber ermöglicht die fiktive Figur Fließ, Rabes Menschlichkeit herauszuarbeiten.
Eine wahre Geschichte?
In Marc Rothemunds
Sophie Scholl gibt es dagegen mit dem sie verhörenden Mitarbeiter der Geheimen Staatspolizei (Gestapo), Robert Mohr, einen historisch belegten Widerpart der Protagonistin. Allerdings zeigen auch die Verhörszenen, dass es in Filmen, die den Gesetzen des konventionellen Erzählkinos verpflichtet sind, generell nahezu unmöglich ist zwischen Fiktion und Faktum zu unterscheiden: Durch standardisierte
Montageregeln wie etwa dem hier angewandten
Schuss-Gegenschuss-Verfahren wird das Geschehen als kontinuierliche unsichtbare Erzählung inszeniert, in der
Sophie Scholl - Die letzten Tage
Authentisches und Erdachtes bruchlos ineinander fließen. Wer nicht weiß, dass für diese Szenen die Verhörprotokolle der Gestapo herangezogen wurden, könnte das Verhör also durchaus auch für ein packend arrangiertes, fiktives Schauspielerduell halten. Dass die Filmemacher schon im Vorspann auf die Verwendung der Protokolle hinweisen, beugt jedoch dieser ungewollten Lesart vor. Überhaupt gehört es seit jeher zu den Standards von Historienfilmen, im Vorspann textliche Informationen über den geschichtlichen Kontext der Filmhandlung mitzuliefern und damit den folgenden Ereignissen gewissermaßen ein Echtheitszertifikat auszustellen. Entscheidend für die Glaubwürdigkeit des Films ist jedoch letzten Endes, dass es gelingt, dem eigentlichen Geschehen durchgängig Authentizität zu verleihen.
Der Look muss stimmen
Von elementarer Bedeutung in diesem Zusammenhang ist, dass das Dekor als authentisch empfunden wird, was nicht nur gründliche historische Recherchen erfordert, sondern auch ein Gespür für die Erwartungshaltung der Zuschauer/innen. So könnte sich die nahe liegende Annahme, dass das Publikum bei einem Film, der während der NS-Diktatur spielt, eine Fülle an Partei-Fahnen, Hitler-Porträts, Uniformen etc. voraussetzt, durchaus als falsch erweisen. In
Sophie Scholl zumindest erzielt ein zurückhaltendes Setdesign eine sehr wirklichkeitsnahe Wirkung. Den wohl wichtigsten Aspekt aber, wenn es um die Glaubwürdigkeit eines Spielfilms geht, bildet die Besetzung der Hauptrolle. Steht im Mittelpunkt der Handlung jemand, dessen Äußeres kaum oder gar nicht bekannt ist, wie es etwa bei
John Rabe,
Schindlers Liste oder
Der Untergang
auch bei
Aimée & Jaguar der Fall ist (beziehungsweise war), dann besteht bei der Besetzung ein relativ großer Freiraum – die schauspielerische Qualität kann dann als nahezu ausschließliches Auswahlkriterium gelten. Kreist der Film dagegen um eine historisch bekannte Person, dann entscheidet meist das Kriterium der Ähnlichkeit. Nicht unbedingt zum Vorteil des Films: Bei Tom Cruises heroisierendem Stauffenberg-Auftritt in
Operation Walküre mag das noch zu einem akzeptablen Ergebnis geführt haben. Bei zahllosen Hitler-Darstellungen aber rächte sich das Ähnlichkeitsdogma durch denkbar sterile Darbietungen, flankiert von der oft geäußerten Frage, ob und auf welche Weise Hitler überhaupt dargestellt und damit menschlich gezeichnet werden kann. Bezeichnenderweise wurde Bruno Ganz' Verkörperung von Hitler in
Der Untergang überwiegend als realistisch gelobt, obwohl der Schauspieler dem Diktator ohne Maske gar nicht ähnelt.
Das Dokumentarische als Kriterium
Spielfilme, deren Handlung in der Gegenwart angesiedelt ist, gelten in der Regel dann als besonders realistisch, wenn sie verstärkt auf dokumentarische Techniken zurückgreifen. Dazu gehören die Arbeit mit Laiendarsteller/innen, das Drehen an Originalschauplätzen, eine
Handkamera, die spontan auf das Geschehen reagiert und oft auf Augenhöhe der Figuren agiert, die Vernachlässigung von Dramaturgie und
Montage als auch die ausschließliche Verwendung von Originalton – bei weitgehendem Verzicht auf
Filmmusik und Sounddesign. Diese Techniken zielen vor allem darauf, unmittelbare, unverfälschte Realität einzufangen. Bei Filmen, deren Sinn es ist, eine historische, also vergangene Realität zu rekonstruieren, können sie zwangsläufig nur bedingt Anwendung finden. Dennoch spielt der dokumentarische Aspekt auch für diese Filme eine wichtige Rolle.
Authentizität vermitteln
So zeichnen sich fast alle bisher genannten Filme dadurch aus, dass sie authentische Zeitdokumente nutzen, seien es überlieferte Briefe oder Tagebuchnotizen der Person. Meist werden die Protagonisten/innen beim Schreiben gezeigt, wobei fast immer gleichzeitig die innere Stimme des Helden zu hören ist, wie etwa auch anschaulich in
John Rabe. Das ermöglicht nicht nur die intimsten Gedanken der Person zu erfahren, sondern erleichtert auch die Identifikation mit dieser. Auch die Echtheit des Schriftstücks wird gewissermaßen vor Augen geführt. Ebenso werden Fotografien, Zeitungen, Schlager und Radioübertragungen häufig verwandt, weil sie besonders geeignet sind, ein glaubhaftes Zeitkolorit zu erzeugen. Dabei müssen die Dokumente nicht zwangsläufig authentisch sein. Allerdings steigern von Zuschauern/innen als echt zu verifizierende Zeugnisse den Eindruck des Authentischen erheblich, wie etwa Churchills berühmte, im Radio übertragene Verkündigung des Kriegsendes, die gegen Ende in
Schindlers Liste zu hören ist. Zum gleichen Zweck wird auch immer wieder altes dokumentarisches Filmmaterial herangezogen. In
John Rabe etwa gehen historische Aufnahmen von der japanischen Invasion fließend in schwarzweiße Bilder der Spielfilmkamera über, die erst nach und nach ihre gewohnte
Farbigkeit zurückgewinnen.
Am Ort des Geschehens
Vor allem aber suchen die Filmemacher/innen, wenn möglich, die Aura des Originalschauplatzes, wie auch Regisseur Gallenberger, der
John Rabe an Originalschauplätzen in Nanjing und in Schanghai drehte. Dass für
Operation Walküre die Hinrichtung Stauffenbergs und seiner Mitverschwörer am Ort des Geschehens, dem Berliner Bendlerblock, gefilmt wurde, mag auch aus Gründen der Publicity geschehen sein. Wenn aber Steven Spielberg für
Schindlers Liste nach Polen reiste, um in Oskar Schindlers früherer Fabrik bei Krakau und vor dem Haupttor des Vernichtungslagers Auschwitz zu drehen, so ist dies integraler Bestandteil seines ästhetischen Konzepts. Dass er den Film nicht nur in
Schwarzweiß drehte, sondern zu großen Teilen auch mit der
Handkamera, erklärte er damit, dass diese dokumentarische Note sein Bemühen zeige, die Geschehnisse so darzustellen, "wie sie tatsächlich abliefen". Dabei ist und bleibt ein Film, auch ein Dokumentarfilm, eine Kunstform, die einen ästhetischen Blick auf die Gegenwart oder auf historische Ereignisse wirft. In einem Film, der sich mit dem Holocaust auseinandersetzt, ist das Ringen um Authentizität für Spielberg eine moralische Frage. Der französische Filmemacher François Truffaut, mit dem der Amerikaner befreundet war, sah das einst anders: Er lehnte es kategorisch ab, einen Film über die Vernichtungslager zu drehen, weil er es unmoralisch fand, abgemagerte Schauspieler/innen in Häftlingskleidung zu stecken. Auch andere Filmemacher gingen von der Unmöglichkeit, den Holocaust zu dramatisieren, aus, begegneten dieser aber mit Filmen fernab des konventionellen Erzählkinos, etwa Alain Resnais mit seinem Dokumentarfilm-Essay
Nacht und Nebel (Nuit et brouillard, F 1955). Dass Spielberg am Schluss von
Schindlers Liste die echten Überlebenden zeigt, deutet an, dass auch ihm in diesem Kontext der Illusionismus des Erzählkinos Unbehagen bereitet. Sein Ziel, eine große Öffentlichkeit zu erreichen, hat er bekanntlich gleichwohl erreicht.
Autor/in: Jörn Hetebrügge ist Autor und Journalist mit den Themenschwerpunkten Kunst und Film, 26.03.2009
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