Hintergrund
Integration in die Gesellschaft? – Jugendkriminalität und Möglichkeiten der Resozialisierung
Im Gedächtnis bleiben die "harten" Fälle: Amokläufe an Schulen, brutale Schläge und Tritte in der Münchner U-Bahn, der Mord an dem 16-jährigen Brandenburger Marinus Schöberl durch einen Fußtritt auf den Hinterkopf. Was aber passiert danach mit den jugendlichen Kriminellen, wenn Täter oder Täterinnen sich nicht wie im Fall der deutschen Amokläufer nach der Tat selbst richten? Nach welchen Grundsätzen werden sie verurteilt und vor allem: Wie werden sie nach dem Verbüßen der Strafe wieder in die Gesellschaft integriert? Jugendkriminalität wird, das zeigen allein die eben erwähnten Fälle, in der Öffentlichkeit vor allem dann diskutiert, wenn besonders grausame Taten begangen wurden. Vielleicht scheint deswegen in der öffentlichen Meinung der Eindruck vorzuherrschen, die Zahl jugendlicher Krimineller steige. Dabei, sagt Nadine Bals, Geschäftsführerin der Deutschen Vereinigung für Jugendgerichte und Jugendgerichtshilfen e.V., stagnierten die Zahlen seit Jahren. Bei einigen, weniger schwerwiegenden Delikten, wie etwa Diebstahl, seien sie sogar rückläufig.
Strafmündigkeit ab 14 Jahren
Jugendliche sind in Deutschland ab dem Alter von 14 Jahren strafmündig. "Delikte wie Schwarzfahren oder den Konsum leichter Drogen begeht nahezu jeder im Laufe seiner Jugend einmal", sagt Nadine Bals. Polizeilich registriert werden von 100.000 Jugendlichen im Alter zwischen 14 und 18 Jahren etwa 1.500, davon etwa die Hälfte wegen Gewalt-, rund ein Drittel wegen Eigentumsdelikten. Rund drei Viertel der auffällig gewordenen Jugendlichen sind männlich. Von den 1.500 wiederum werden etwa 30 Prozent verurteilt – "ein äußerst geringer Teil aller Jugendlichen also", so Bals. Viele Risikofaktoren, im mündigen Alter straffällig zu werden, liegen bereits in der Kindheit: Gewalt in der Familie etwa, materielle Not oder soziale Ausgrenzung. Bei Kindern bis zu 14 Jahren werden etwa ein Prozent bei der Polizei auffällig. Da Kinder unter 14 Jahren noch nicht strafmündig sind, greifen hier vom Einschalten des Jugendamts bis hin zur Heimunterbringung andere Maßnahmen als bei Jugendlichen.
Erziehung als Grundgedanke
Strafverfahren gegen Jugendliche werden bundesweit vom Jugendgerichtsgesetz (JGG) geregelt, das je nach richterlicher Einschätzung bis zum Alter von 21 Jahren angewendet werden kann. Während das Erwachsenenstrafrecht insbesondere auf Sanktionen zielt, orientiert sich das JGG vorrangig am Grundgedanken der Erziehung. So haben Jugendrichter großen Handlungsspielraum, diesen Gedanken im Hinblick auf eine (Re-)Sozialisierung jugendlicher Täter/innen umzusetzen. "Die Haftstrafe soll bei Jugendlichen die ultima ratio sein", sagt Verena Boxberg, wissenschaftliche Mitarbeiterin des Kriminologischen Forschungsinstituts Niedersachsen e. V. (KFN). Etwa bei Drogenkonsum werden statt Haft- auch Therapiemaßnahmen angeordnet. Statt geschlossenem Vollzug kann Betreuung durch das Jugendamt angeordnet oder die Strafe beispielsweise mit Auflagen zur Bewährung ausgesetzt werden. Bei dem Delikt der Körperverletzung gibt es Möglichkeiten wie Anti-Gewalt-Trainings oder Gespräche zwischen Tätern/innen und Opfern. "Die Auflagen sollten pädagogisch auf die Tat abgestimmt sein", sagt Nadine Bals, "stundenlanges Laubharken bringt gar nichts".
Resozialisierung als Ziel
Wird der/die Jugendliche tatsächlich zu einer Freiheitsstrafe verurteilt, können zwischen sechs Monaten und fünf Jahren, in Ausnahmefällen auch bis zu zehn Jahren Haft verhängt werden. Ziel ist es, dem/r Inhaftierten nach der Entlassung ein straffreies Leben in Freiheit zu ermöglichen. Weil davon ausgegangen wird, dass Jugendliche weniger verfestigte Persönlichkeiten als Erwachsene und insofern noch stark prägbar sind, soll die Resozialisierung auch hier durch erzieherische Maßnahmen während der Haft erreicht werden. Bei einer Strafverbüßung in einer der bundesweit 28 geschlossenen Jugendstrafvollzugsanstalten steht im Vordergrund insofern nicht das "Wegschließen", sondern die Förderung von sozialem Lernen, von Bildung und Ausbildung. Die Betreuer/innen sollten sozialpädagogisch und psychologisch geschult sein. Auch im geschlossenen Vollzug sollten Jugendliche, so Verena Boxberg, nicht in Einzelzellen, sondern in Wohngruppen von etwa fünf oder sechs Straftätern/innen betreut werden. Möglichkeiten zum Sport und zur Schulbildung gibt es in allen, zur Ausbildung in nahezu allen Anstalten. Sonstige Angebote wie soziale Trainings und Rollenspiele, kunsttherapeutische Maßnahmen, Bewerbungshilfen oder den Einbezug der Eltern etwa durch Elternabende sind unterschiedlich stark vorhanden.
Ausnahme: der offene Vollzug
Allerdings existieren bundesweit nur wenige Möglichkeiten, die Haftstrafe im offenen Vollzug anzutreten. Ein Modellprojekt ist das baden-württembergische Projekt Chance e.V., das mit Tätern/innen zwischen 14 und 21 ein einjähriges soziales Training absolviert. "Wir begleiten die Jugendlichen auf Augenhöhe", sagt Projektleiter Georg Horneber – geübt werden Eigenverantwortung, Zuverlässigkeit, Kommunikation und Selbstbestimmung. 18 Jugendliche wohnen in einem alten Kloster in Einzel- und Doppelzimmern und werden von insgesamt 15 unterschiedlich ausgebildeten Angestellten 365 Tage im Jahr betreut. Die Jugendlichen führen den Haushalt und bauen die Wohnräume selbst aus. Dabei erarbeiten sie sich in einem Tutorensystem stufenweise Privilegien und Freiheiten wie etwa Fahrten nach Hause: "Positive Beispiele von Gleichaltrigen werden von Jugendlichen nämlich viel eher zum Vorbild genommen als positive Beispiele von Erwachsenen", so Horneber.
Hohe Rückfallquoten
Aus dem geschlossenen Vollzug heraus werden bis zu 78 Prozent der Jugendlichen mit einer erneuten Verurteilung rückfällig. Im Projekt Chance e.V. sind es knapp 45 Prozent – auch, weil die Mitarbeiter/innen die Jugendlichen darin unterstützen, die Zeit nach der Strafe zu planen. Stabile familiäre Verhältnisse, Wohnung und Arbeit, Schuldenfreiheit und eine Beziehung tun ihr übriges. Von verschiedenen Seiten der Politik werden zwar Maßnahmen wie die Erhöhung des Jugendstrafmaßes oder sogenannte "Warnschussarreste" immer wieder gefordert. Dies wird von der Fachwelt jedoch zumeist abgelehnt mit der Begründung, dass sich damit die Ziele der Jugendstrafe von Erziehung hin zu Sanktionen verschieben würden. Resozialisierungen werden jedoch insbesondere durch verständnisfördernde Projekte, Hilfestellungen zur Problemlösung und die Chance auf soziale Teilhabe erreicht.
Autor/in: Patricia Hecht, Autorin mit den Schwerpunkten Kultur und Sozialpolitik, arbeitet unter anderem für den Tagesspiegel, den RBB und die tageszeitung (taz), 28.04.2009
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