Ein Held der kleinen Leute
Den größten Teil seines Erwachsenenlebens verbrachte John Dillinger (1903-1934) im Gefängnis. In den zwei Jahren vor seinem Tod überfiel er mit seiner Bande allerdings zwei Dutzend Banken und wurde in dieser Zeit zu einem amerikanischen Volkshelden. Zur Zeit der Großen Depression verkörperte ein Mann wie Dillinger die Rache der kleinen Leute. Legendär wurden auch seine Gefängnisausbrüche, einer davon mit einer selbst geschnitzten Holzpistole. Das FBI unter J. Edgar Hoover erklärte ihn zum "Staatsfeind Nr. 1", konnte ihn aber nur durch einen Verrat dingfest machen: Am 22. Juli 1934 wurde John Dillinger von Polizeikugeln durchsiebt, als er in Chicago gerade ein Kino verließ.
Ein Mann und seine Taten
Die Regiegröße Michael Mann hat diesen allemal filmträchtigen Stoff nun in seinem Gangsterepos
Public Enemies verarbeitet. Die öffentliche Verehrung Dillingers interessiert ihn allerdings ebenso wenig wie der soziale Hintergrund der Weltwirtschaftskrise. Der genau recherchierte Film ist das stark stilisierte, fast entrückt wirkende Porträt eines Mannes und seiner Taten. Als Bankräuber und Gentleman steht John Dillinger (Johnny Depp) ganz im Mittelpunkt, lässt aber niemanden in seine Seele blicken – nicht einmal seine Geliebte Billie Frechette, die er gleichwohl durch seine untadeligen Manieren für sich gewinnen kann. Den Großteil des Films bilden ballettartig choreographierte Banküberfälle und Ausbrüche, bei denen Dillinger – wie sein reales Vorbild – das schmutzige Töten anderen überlässt. Auf der anderen Seite, der des Gesetzes, steht der wortkarge FBI-Ermittler Melvin Purvis (Christian Bale), der seinem Widerpart in mancher Hinsicht gleicht. Im von Chef Hoover ausgerufenen "Krieg gegen das Verbrechen" verlässt Purvis sich auf durch Folter erpresste Aussagen, ohne die Verhörmethoden seiner Mitarbeiter zu billigen.
Nüchterner Blick auf eine Männerwelt
Schon in seinem Thriller
Heat (USA 1995) war diese Dualität von Verbrecher und Ermittler Manns zentrales Anliegen. Und auch damals schlug er aus atemberaubend inszenierten Feuergefechten ästhetischen Gewinn. Es wäre allerdings verkürzt, ihn als testosteronsüchtigen Action-Regisseur zu denunzieren. Gerade der Verzicht auf fadenscheinige Psychologisierungen kennzeichnet seinen kompromisslosen Stil. So erfährt man in
Public Enemies nichts über Dillingers Kindheit und Jugend, das seine Verbrechen entschuldigen könnte. Erklärende Dialoge sind auf ein Minimum beschränkt, wichtiger sind eine gedämpfte Tonspur und emotionale
Musikuntermalung als Mittel der Charakterzeichnung. Auch majestätische
Kamerafahrten, mit denen Regisseure wie Martin Scorsese (
GoodFellas, Goodfellas, USA 1990) oder Brian De Palma (
Scarface – Toni das Narbengesicht, Scarface, USA 1983)
ihre Gangsterfilme ästhetisch überhöhen, sucht man bei ihm vergeblich. Mann nähert sich seinen Figuren stattdessen mit extrem intimen, kontextlosen
Nahaufnahmen. Sie zeigen eine abgeschlossene Männerwelt, in der Fragen nach der Moral genauso wenig Platz haben wie lässige Posen. "Ich bin John Dillinger, ich raube Banken aus", stellt sich der Volksheld Billie vor. Ein höheres Motiv ließ sich bei ihm schlicht nicht finden.
Wo bleibt die Moral?
Der
farbentsättigte, fast expressionistische Stil von
Public Enemies erinnert an alte Schwarzweißvorbilder. Im Gegensatz zum klassischen Hollywood-Kino hat Michael Mann jedoch kein politisches Problem damit, auch die sympathischen Seiten eines Verbrechers hervorzuheben. Allerdings erliegt der Regisseur dabei nicht der Faszination der Gewalt im Stile etwa von
Bonnie und Clyde (Bonnie and Clyde, Arthur Penn, USA 1967). Manns nüchterne Betrachtungsweise, verstärkt durch die authentisch wirkende digitale Aufnahmetechnik, überlässt die Frage nach der moralischen Einordnung des Anti-Helden dem Publikum. Gleichwohl dürfte die Identifikation stärker ausfallen als im Gangstergenre ohnehin üblich. Als populärer Anarchist des Verbrechens bildete Dillinger stets den Gegenpol zum brutalen Al Capone. Dessen Abbild findet sich in stilbildenden Klassikern wie
Der öffentliche Feind (The Public Enemy, William A. Wellman, USA 1931), dem ersten
Scarface, das Narbengesicht (Scarface, USA 1932) von Howard Hawks oder in Brian de Palmas
Die Unbestechlichen (The Untouchables, USA 1987). Ohne großen Widerhall wurde Dillingers Biografie in den beiden gleichnamigen Filmen
Jagd auf Dillinger (Dillinger, Max Nosseck, USA 1945)
und
Jagd auf Dillinger (Dillinger, John Milius, USA 1973) aufgegriffen. Jeweils im Stil der Zeit wird er dabei als skrupelloser Mörder oder als tollkühner Revolverheld dargestellt. Das populäre Gesicht eines Edward G. Robinson, Humphrey Bogart oder Robert de Niro bekam er nie. Michael Mann besetzt ihn nun mit dem Kassenmagneten Johnny Depp, ein äußerst wandlungsfähiger Schauspieler, der Manns modernem Konzept eines ambivalenten Helden entspricht.
Kinohelden als Vorbilder
Wie sehr die echten Ganoven sich selbst am Kino orientierten, belegen die grandiosen Schlusssequenzen des Films. Beim Betrachten des Gangsterfilms
Manhattan Melodrama (W. S. Van Dyke, USA 1934) berauscht sich Dillinger heimlich an den Worten und Gesten seines Vorbilds Clark Gable. Beide tragen denselben Schnurrbart. "Das Kino macht sie alle gleich", ärgerte sich Detektiv Marlowe über die Marotten der Unterwelt in Raymond Chandlers Kriminalroman
Tote schlafen fest, den Howard Hawks unter gleichem Titel verfilmte (
Tote schlafen fest, The Big Sleep, USA 1946).
Public Enemies allerdings gleicht keinem Gangsterfilm vor ihm.
Autor/in: Philipp Bühler, Filmpublizist und Autor von Filmheften der bpb, 09.07.2009
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