Hintergrund
Monsieur Lazhar – Eine Figurenanalyse
Die Not ist groß, als sich der 55-jährige, algerischstämmige Bachir Lazhar, dessen Name übersetzt "Überbringer guter Nachrichten" bedeutet, in einer Schule in Montreal als Lehrer bewirbt. Denn dort muss schnell ein Ersatz für die beliebte Lehrerin Martine Lachance gefunden werden, die sich kurz zuvor in der Schule erhängt hat. So erhält Monsieur Lazhar kurzerhand den Zuschlag und wird eingestellt. Für ihn spricht nicht nur seine offene Art, sondern auch seine Qualifikation. 19 Jahre lang hat er als Lehrer in Algerien gearbeitet. Nun besitzt er eine ständige Aufenthalts- und Arbeitsgenehmigung für Kanada. Zumindest behauptet er dies. Aus dem Blickwinkel der überforderten Schulleiterin wird der vermeintliche Lehrer als Protagonist in dem Film
Monsieur Lazhar (Philippe Falardeaus, Kanada 2011) eingeführt. Und es bestehen zunächst keinerlei Zweifel daran, dass seine Aussagen und berufliche Identität nicht ganz richtig sein könnten. Nur kleine Brüche, in denen sich die freundlichen Gesichtszüge des Mannes für einen kurzen Moment verhärten, verweisen auf Unstimmigkeiten – etwa als der Schüler Simon den neuen Lehrer fotografiert, ohne vorher um Erlaubnis zu bitten, und sofort scharf von diesem kritisiert wird.
Unter falscher Identität im politischen Asyl
Bachir Lazhar hat gute Gründe, möglichst wenig Spuren zu hinterlassen. Denn tatsächlich, so offenbart der Film in den folgenden
elliptischen Szenen, hat er keineswegs eine dauerhafte Aufenthaltsgenehmigung, sondern bereitet sich gerade auf eine Anhörung vor, in der über seinen Antrag auf politisches Asyl entschieden werden soll. Nur vor Gericht, außerhalb der Schule, offenbart Bachir seine wahre Identität. So war er keineswegs Lehrer in Algerien, sondern zunächst Beamter und schließlich Besitzer eines Cafés. Seine Frau hingegen arbeitete als Lehrerin an einer Schule und wurde durch eine systemkritische Publikation zur Staatsfeindin. Bachir war der erste der Familie, der das Land verließ, um in Kanada Zuflucht zu finden und die Übersiedlung seiner Frau und der gemeinsamen Kinder vorzubereiten. Jedoch konnten sie ihm nie folgen, denn sie kamen bei einem Brandanschlag kurz vor der geplanten Abreise ums Leben. Bachir Lazhar leidet sehr unter dem Verlust. Umso schmerzlicher ist die Situation für ihn, weil ihm vor Gericht niemand zu glauben scheint.
Innere Konflikte zwischen Gegenwart und Vergangenheit
Die einzelnen Szenen sind dramaturgisch geschickt ineinander verwoben, so dass sie die Zuschauenden einerseits Monsieur Lazhar nahe kommen lassen und ihn als liebenswürdige Hauptfigur einführen und andererseits nach und nach Informationen über seine Vergangenheit offenbaren. So wird zwar unmissverständlich deutlich, dass Bachir Lazhar nicht mit offenen Karten spielt und die Personen in seiner Umgebung täuscht, unsympathisch wird er dadurch aber nicht. Vielmehr wird seine emotionale Zerrissenheit deutlich, wenn er fließend zwischen den Rollen als beliebter Lehrer und Kollege sowie als Asylsuchender wechselt, der nicht nur mit dem Gefühl der Fremdheit in Kanada, sondern auch mit großen persönlichen Schuldgefühlen zu kämpfen hat.
Verdrängung als Problem
In der Grundschule spiegeln sich in gewisser Weise auch seine eigenen traumatischen Erlebnisse wider. Während die Schulleitung und die Eltern der Kinder den Suizid der Lehrerin am liebsten verdrängen wollen, spürt Bachir Lazhar, wie sehr dies den Kindern nahegeht. Er kennt das Gefühl des Verlusts, der ohne die Möglichkeit zum Abschiednehmen umso schmerzlicher ist. Insbesondere die Schülerin Alice und der Schüler Simon werden ihm wichtig – wahrscheinlich auch, weil sie ihn an seine eigenen Kinder erinnern. In den Schuldgefühlen des Jungen, der sich vor kurzer Zeit bei der Schulleiterin über seine Lehrerin beschwert hatte und sich nun für deren Tod verantwortlich fühlt, erkennt Bachir seine eigene emotionale Unruhe. Andererseits beeindruckt ihn Alice mit ihrer reifen Art und Weise, das Unausgesprochene und Verdrängte in Worte zu fassen. Ihre Gedanken stehen stellvertretend für seine eigenen. Weil Bachir Lazhar die Ängste und Sorgen der Kinder besser versteht als alle anderen Erwachsenen und ihnen Raum bietet, über diese offen zu sprechen, wird er für die gesamte Klasse nach und nach zu einer bedeutenden Bezugsperson.
Humanist voller Widersprüche
In auffälliger Weise steht diese Empathie dem Unterrichtsstil von Bachir Lazhar entgegen. So kennzeichnet der erste Auftritt im Klassenzimmer den charismatischen neuen Lehrer doch vor allem als Vertreter einer unzeitgemäß konservativen und autoritären Pädagogik, die nichts von kreisförmigen Sitzformen hält und zunächst mit starren Sitzreihen die alte Ordnung wiederherstellt. Sogar leichte handgreifliche Maßregelungen scheinen für den Fremden durchaus angemessen zu sein. Vor allem aber fordert Bachir seine Schüler/innen mit anspruchsvollen Auszügen aus Werken französischer Klassiker von Molière und Balzac, die normalerweise aufgrund ihrer Komplexität erst in höheren Jahrgangsstufen behandelt werden. Für seine Lehrerkollegen und die Kinder wirkt Bachir dadurch zunächst überaus altmodisch und weltfremd. Aus dieser Literatur aber schöpft er seine humanistische Überzeugung – und als Einwanderer in Kanada und aufgrund seiner Erfahrungen in Algerien ist ihm umso mehr bewusst, welche Bedeutung und Macht Sprache hat. So verwundert es nicht, dass er auch gegen Ende des Films, als die Schulleiterin ihn aufgrund seiner Täuschung fristlos entlassen muss, keine übliche Abschiedsrede wählt. Stattdessen versteckt er diese in einer lyrischen Geschichte, die offenbar nur von Alice wirklich verstanden wird. Sie ist die einzige, die ihn schweigend nach dem Unterricht aufsucht.
Autor/in: Stefan Stiletto, Medienpädagoge mit Schwerpunkt Filmkompetenz und Filmbildung, 28.03.2012
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