Ludovik ist der jüngste Spross einer Familie mit vier Kindern. Für seine Eltern ist es eine Angelegenheit des sozialen Prestige, ein schönes Haus in einer eleganten Gartenstadt zu beziehen, wo die Welt rundum noch in Ordnung ist. Alles wäre bestens, wenn Ludovik nicht partout ein Mädchen sein wollte.
Die geschlechtliche Orientierung eines Kindes ist das eine Thema des Films. Alain Berliner erzählt aus der Perspektive des kleinen Ludovik überaus einfühlsam und kenntnisreich von den dabei prägenden Überraschungen, Niederlagen und Erfolgen. Das Drama beginnt spielerisch mit Verkleidungen und bühnenreifen Auftritten des Jungen in Mädchenrollen. Beim Erkennen, Ausprobieren und Benennen seiner Vorliebe stößt Ludovik immer mehr auf das Unverständnis und die Feindseligkeit seiner Umwelt. Und am Ende wird ihm die Schuld aufgebürdet, dass sein Vater die Arbeit verliert und die Familie aus dem Paradies der 'Anständigen' vertrieben wird. Das Wunder ist: Ludovik zerbricht unter diesem Druck nicht. Was ihn – zunächst nur für den Zuschauer sichtbar – vor allen Zumutungen und Angriffen auf seine Unschuld rettet, ist seine Fantasie. Er kann sich in seine zauberhafte Barbie-Puppenwelt flüchten und wird so beinahe unverletzbar. Damit ist Berliners Film eine ebenso heilsame und lehrreiche Meditation über die Kraft der sexuellen Bestimmung eines Menschen wie über das geheimnisvolle Verhältnis von Traum und Wirklichkeit.
Aber der Regisseur verfolgt noch ein anderes Thema: Wie geht die Erwachsenenwelt mit der 'verirrten', kindlichen Sexualität um? Die Schule lädt die Rabeneltern vor. Diese bringen Ludovik zur Therapeutin, als ob es sich bei der zu Tage tretenden Neigung um eine Krankheit oder zumindest um einen Erziehungsfehler handele. Die Suche nach Schuldigen entzweit die Eltern. Zuerst fühlt sich der Vater aufgefordert, dem Sohn – und nicht zuletzt auch der Mutter – endlich einmal zu zeigen, was ein echter Kerl ist, angefangen beim drahtigen Kurzhaarschnitt. Dann, als der Familie die Vertreibung durch die lieben Nachbarn bevorsteht, kann die Mutter Ludovik plötzlich nur noch als Fluch begreifen. Damit regt der Film die Diskussion über die allgemein wohl nicht entscheidbare Frage an, ob es nun besser sei, ein Kind wie Ludovik gewähren zu lassen und/oder anzupassen. Berliner lehrt den Zuschauer die Toleranz und zeigt, wie viele soziale, persönliche und allzu persönliche Faktoren im wirklichen Leben zu berücksichtigen sind, und dass es keine allgemein gültige Antwort gibt.
Einzig die weit entfernt lebende Oma bringt Ludovic Verständnis entgegen. So erscheint das Leben als Kompromiss – und als Lernprozess. Durch einen Zufall gelingt es auch der Mutter gegen Ende, sich zumindest für einen Augenblick in die Fantasiewelt Ludoviks zu versetzen und ihn damit besser zu verstehen. Das verdeutlicht die subtile Dimension des Films: Eine Voraussetzung für das gute Zusammenleben ist auch in der Familie das Verstehen des anderen und die gegenseitige Anerkennung. Wer nur sein eigenes Konzept kennt und verfolgt, erleidet in der Gemeinschaft unweigerlich Schiffbruch. Das eigentlich Faszinierende am Film ist, dass sich über die Identifikationsfigur Ludovik immer weitere interpretatorische Schichten aufblättern lassen, die Kindern wie Eltern und anderen Erwachsenen zum Genuss werden. So gesehen ist
Mein Leben in Rosarot ein meisterhafter Film für alle.
Autor/in: Pit Fiedler, 01.09.1997