Im letzten Drittel von
Funny Games gibt es den Moment, in dem die Zuschauer aufatmen. Anna, die gequälte Ehefrau, deren Kind schon ermordet auf der Erde liegt, greift sich das Gewehr und schießt gezielt auf einen der freundlichen Henker. Endlich! Auch die Aggression des Publikums entlädt sich in diesem Schuss. Schließlich hat es beinahe anderthalb Stunden mit ansehen müssen, wie zwei duschgel-saubere, hell gekleidete, so zuvorkommende wie kalt-brutale junge Männer eine Kleinfamilie im Wochenendhaus terrorisieren, völlig grundlos, nur mit der nebensächlichen Bemerkung, bis neun Uhr morgens wären alle drei 'kaputt'. Aber das Aufatmen ist zu früh gekommen. Der Angeschossene sucht hektisch nach einer Fernbedienung und spult den Film, in dem er mitspielt, an die Stelle vor dem 'Befreiungs-Schuss zurück. Nun kann er ihn verhindern. Er knallt statt dessen den Ehemann ab.
Regisseur Michael Haneke spielt mit den Erwartungen des Publikums. In einem Mainstream-Film wäre die Aktion der Frau selbstverständlich. Das Kommerz-Kino versetzt seine Kunden in Spannung, um sie lustvoll daraus zu erlösen. Der Filmheld handelt als Stellvertreter des Zuschauers. Das funktioniert genauso wie im Kasperletheater. Man hat ein gutes Gefühl, wenn es dem Schurken an den Kragen geht. Das muss so sein, das darf man für sein Eintrittsgeld erwarten. Wenn Erwartungen enttäuscht werden, nennt man das Frustration. Genau darauf legt es Michael Haneke in
Funny Games an. Er führt dem Zuschauer eine Gewaltsituation vor, aber er verweigert ihm auf die zunehmende Gewaltlust die Entspannung, die Erlösung. Haneke fragt sich, wieso das Publikum sich darauf einlässt, und gibt die Frage in
Funny Games an die Zuschauer weiter. Ein paarmal spricht einer der Killer direkt in die Kamera, kommuniziert so mit den Zuschauern, macht sie zu Komplizen: "Sie wollen das doch jetzt bis zum Ende sehen!", heißt es einmal sinngemäß. Haneke hofft, durch diese Verfremdungstechnik einen Lerneffekt auszulösen. Die Zuschauer sollen darüber nachdenken, warum sie sich dieser und damit im Prinzip jeder Gewalt im Kino aussetzen.
Haneke wünschte sich seinen Film in den Mainstream-Filmtheatern; deswegen hat er den reißerischen Titel gewählt. Doch die spielen nicht mit.
Funny Games läuft in den Programmkinos und somit tendenziell vor dem falschen Publikum. So kann das Experiment nicht gelingen. Es scheitert aber noch aus einem anderen Grund. Haneke präsentiert Gewalt grundsätzlich anders als der Mainstream. Er vermeidet dessen genau kalkulierten Rhythmus von Spannung und Entspannung und zieht statt dessen – ebenso kalkuliert – die Daumenschrauben des Entsetzens konsequent Drehung um Drehung an. Das macht seinen Film zu einer Tortur und den Zuschauer zum Inquisitionsopfer. Er kann das Kino zwar verlassen – und damit könnte Haneke vielleicht einen pädagogischen Erfolg verbuchen. Doch er wird womöglich eher dazu tendieren,
Funny Games als existenzialistische Parabel zu interpretieren. Das Dasein als Gewaltsituation ohne Ausweg. Die Hölle, das sind die anderen – und wir sind jetzt in ihr. Es gibt auch in diesem Moment Menschen auf der Welt, die so gefoltert werden wie die Figuren dieses Films. Das lässt berechtigtes Erschrecken aufkommen. Aber das liegt außerhalb von Michael Hanekes medienpädagogischer Absicht. Und in diesem anderen Zusammenhang wirkt das Augenzwinkern in die Kamera auf einmal grässlich falsch.
Autor/in: Herbert Heinzelmann, 01.11.1997