Kranke Antworten ...
Wie ihr Gegenteil, die Liebe, ist die Gewalt ein Phänomen, das zu widersprüchlich, zu polymorph ist, um von der Kultur, die sie hervorbringt, wirklich verstanden zu werden. Endlos wie der Strom der Gewaltbilder ist auch der Diskurs-Strom, der ihnen vorausgeht, sie begleitet, ihnen zu folgen versucht. Wirklich 'Recht haben' in der Beurteilung von Gewalt in Bildern kann nur jemand, der selbst im Diskurs Gewalt anwendet. Man muss sich also auf die Widersprüche der Gewalt und der Gewaltbilder einlassen.
Ein Großteil unserer Gewaltfantasien hängt mit den Sozialisationsbedingungen, zuerst einmal denen in der Familie, und mit gesellschaftlichen Verhältnissen zusammen. Um eine Familie vor dem sozialen Abstieg und den alltäglichen Anfeindungen zu bewahren, muss immer mehr Gewalt im Beruf, im Konsum, in der Organisation der Nachbarschaft angewandt werden. In diesem Spannungsfeld von individueller und sozialer Gewalt treten vielfältig ausdifferenzierte Gewalt-Fantasien auf, die den Zusammenbruch der Grenzen zwischen dem öffentlichen und dem privaten Raum begleiten. Der innere Druck verstärkt sich in solchen projektlosen, postmodernen Gesellschaften, in denen sich Macht und Herrschaft vor allem über die Medien vermitteln, Reichtum und Armut so ungleich verteilt sind: Gier, Neid, Angst und Aggressionen bestimmen die soziale Dynamik. Man nimmt daher Gewalt fast immer mit einem gespaltenen Bewusstsein auf: Man will sich von ihr distanzieren, sie nicht 'erleiden', und weiß, dass sie in der einen oder anderen Weise unabdingbar ist. Kurzum: Es wäre heuchlerisch, die Bilder der Gewalt in einer Gesellschaft zu attackieren, ohne die Bedingungen der Gewalt zu reflektieren, die sie selbst hervorruft. Das freilich ist alles andere als ein Freibrief für die Produktion von Gewaltbildern, es beschreibt indes die Notwendigkeit, von der Medienkritik zur Gesellschaftskritik zu gelangen. Gewalt ist Teil des Zivilisationsprozesses und fest in ihre Erzählungen eingeschrieben. Doch während diese Erzählung, auch die Erzählung im Film, die Gewalt als ein Opfer, einen Recht setzenden, historischen Prozess schildert, an deren Ende die friedliche Entwicklung der Gemeinschaft steht, ist die Gewalt im modernen Medienangebot ein selbstverständlicher Teil dieser Gesellschaft geworden. Sie ist eher seriell als dramatisch. Sie ist unveränderbar und sie ändert nichts: Sie eliminiert nur immer Hoffnung.
Zur im kindlich barbarischen Teil unserer Seele angelegten Angstlust (das Vergnügen daran, sich einer – virtuellen – Bedrohung auszusetzen, um sich dann gestärkt zu fühlen) und der mythischen Vorstellung von Opfer, Sühne und Erlösung (im extremen Gewaltbild des gedemütigten und ans Kreuz genagelten Christus) kommen in der Medienkultur weitere fatale Attraktionen im Genuss der Gewaltbilder hinzu: Zum einen ist Gewalt eine jener extremen Körper-Erfahrungen, die in der Zeit des entwerteten und verschwindenden Körpers eine Rettung versprechen. Zum anderen erscheint sie in der Metawelt der Medien, in der Realität und Fiktion zunehmend verschmelzen, zu einem letzten Ausweis der 'Authentizität' mutiert. Und schließlich reflektiert der Konsum der Gewaltbilder, der nicht zufällig so häufig Kult-Züge annimmt, die Abwesenheit anderer moralischer Bezugssysteme als die direkte körperliche 'Bestrafung'.
Gewaltbilder sind in der projektlosen Gesellschaft oft genug auch 'kranke' Antworten auf die Sehnsucht nach Gerechtigkeit, Erlösung und Wahrheit. Sie mögen einerseits unmoralisch sein, sie sind andererseits zugleich Ersatz der Moral. Sie erfüllen die (heimlichen) Vorgaben ihrer Gesellschaft und sie protestieren gegen sie. In einer Gesellschaft, die ihre eigene Gewalttätigkeit nur unter einer dünnen Haut der Konventionen verbirgt, ist die Frage, ob Gewaltbilder zu mehr Gewalt führen oder ob sie helfen, die wirkliche Gewalt zu bearbeiten, eher müßig. Der Kritik bleibt in dieser Situation nur, jedes einzelne Bild auf seinen Gehalt an Wahrheit oder Korruption, an Revolte oder Unmenschlichkeit, an Schmerz oder Zynismus zu befragen.
Autor/in: Georg Seeßlen, 12.12.2006