Das Geisterschiff oder: Mythos Titanic
Ob die Titanic je gesunken ist? Sicher, es gibt die Passagierlisten, es gibt die Zeitungsmeldungen von 1912, es gibt Fotos und Filmaufnahmen (echte, dokumentarische!) von dem Wunderwerk der Technik, von seinem Auslaufen. Es gibt Überlebende, auch Zeitzeugen von den Schiffen, die zu Hilfe kamen. Es gibt sogar ein Wrack. Aber vor allem gibt es Geschichten, Gedichte, Gemälde, Theaterstücke, Opern, ein Musical, Songs, Hörspiele, Spielfilme, Fernsehproduktionen – Fantasien über die Titanic. Ein Artikel des Nachrichtenmagazins "Der Spiegel" summierte kürzlich 3000 Bücher und drei Dutzend Filme.
Wie ein Geisterschiff durchpflügt die Titanic alle Medien. Fakten und Fiktionen sind längst zu einer Einheit verschmolzen. Der Untergang des Ozeanriesen ist ein Mythos geworden, eine große, immer wieder erneuerte Erzählung, die viele Menschen zu faszinieren vermag, an der unentwegt gearbeitet wird. James Camerons Film ist ebenso Arbeit am Mythos wie die noch bis Ende Januar verlängerte Hamburger Ausstellung mit dem Titel "Expedition Titanic". Darin wurde die Katastrophe zur Kunst geformt. Geborgene Gegenstände aus dem Wrack schimmern in magisch blauem Licht. Es sind Reliquien der Legende. Reliquien verlangen Ehrfurcht. Ein Mythos hat stets eine Dimension des Religiösen. Die Katastrophe der Titanic gehört zur Gattung der apokalyptischen Erzählungen. Es ist kein Wunder, dass sie zur Jahrtausendwende, einem idealen Nährboden für Endzeitängste, neu aufgelegt wird. Könnte die Welt so untergehen wie dieses Schiff?
Und ist dieses Schiff nicht selbst ein Symbol für die Welt? Dies scheint der Kern des Mythos zu sein. Das macht seine unerschöpfliche Wirksamkeit aus: Da fährt eine kleine in sich geschlossene Welt auf dem Ozean, so wie man früher glaubte, die Erdscheibe schwimme im kosmischen Meer. Diese Welt ist nun aber eine Schöpfung des Menschen. Und seit den Sündenfall-Erzählungen der diversen Religionen steht der Mensch seinen Schöpfungen mit Skepsis gegenüber. Auf der Titanic sind alle Klassen versammelt, wie auf der großen Welt auch. Armut und Luxus teilen sich das Schiff, Arbeit und Müßiggang. Wie niemand den Lauf der Weltgeschichte zu berechnen vermag, so steht der Titanic plötzlich das Schicksal in Gestalt eines Eisbergs gegenüber. Die Schöpfung erweist sich als Hybris. Es kommt zum Weltuntergang. Doch wie in allen apokalyptischen Erzählungen gibt es auch hier die Geretteten, die anfangen, die Geschichte dieser Welt neu zu formulieren.
Die Titanic ist ein Modellfall für das, was dem Menschen an Unbegreiflichem widerfährt. Um dennoch zu begreifen, erfindet er Mythen. Die Titanic-Katastrophe lässt sich in vieler Hinsicht deuten: Sozial, ökologisch, technologisch, existentiell, theologisch, philosophisch, sogar erotisch und heroisch. Deswegen fährt das Wrack als Geisterschiff der Medien unaufhaltsam weiter.
Autor/in: Herbert Heinzelmann, 12.12.2006