Technik und Naturbeherrschung
Im Jahre 1827 bemerkte der Dichter und Naturwissenschaftler Johann Wolfgang Goethe in einem Gespräch mit Eckermann: "Es ist für die Vereinigten Staaten unerlässlich, dass sie sich eine Durchfahrt aus dem Mexikanischen Meerbusen in den Stillen Ozean bewerkstelligen und ich bin gewiss, dass sie es erreichen. Dies möchte ich erleben, aber ich werde es nicht. Zweitens möchte ich erleben, eine Verbindung der Donau mit dem Rhein hergestellt zu sehen. Aber dieses Unternehmen ist gleichfalls so riesenhaft, dass ich an der Ausführung zweifle ... Und drittens möchte ich die Engländer im Besitz eines Kanals von Suez sehen ..." Bereits die alten Ägypter gruben an einem Kanal zwischen dem Mittelmeer und dem Roten Meer. Auch der Bau des Rhein-Main-Donau-Kanals wurde schon im frühen Mittelalter versucht, dauerte dann aber bis Mitte der 90er Jahre unseres Jahrhunderts. Heute kommen so manche Zweifel auf, ob der neue Schifffahrtsweg bei allen seinen Vorteilen die damit verbundenen Umweltschäden aufwiegt.
Schon sehr lange glaubten die Menschen mit Hilfe der Technik die Natur beherrschen zu können und einige visionäre Projekte reizten von jeher ihre Fantasie. Dachten die Menschen immer auch an die Risiken, die mit dem technischen Fortschritt verbunden sein können? Wenn man auf die vielen Katastrophen, die sich nicht nur in der Neuzeit ereignet haben, zurückblickt, muss dies bezweifelt werden. Der Untergang des angeblich unsinkbaren Ozeanriesen Titanic mit mehr als 1500 Toten oder des Fährschiffes Estonia mit mehr als 800 Toten vor ein paar Jahren zeigen das deutlich. James Watt hat bei der Erfindung seiner Dampfmaschine vor gut 200 Jahren sicher auch nicht daran gedacht, wie viele Unfalltote seine eigentlich hilfreiche Technik fordern würde. Um die letzte Jahrhundertwende war die Technikgläubigkeit besonders ausgeprägt. Viele Menschen befanden sich in einem Rausch, der hieß "höher, schneller weiter ..." Die rasante Entwicklung der Verbrennungsmotoren, der Dampfturbinentechnik und vor allem der Elektrizität ließen die kühnsten Träume der Ingenieure und Techniker Wirklichkeit werden und setzten einen internationalen Wettbewerb in Gang: Wer gewinnt als Nächster das "Blaue Band" mit der schnellsten Überquerung des Atlantiks, wer baut den größten Ozeandampfer, wer entwickelt die schnellste Lokomotive, wer konstruiert das schnellste Automobil, wer fliegt schließlich das schnellste Flugzeug? Hinweise auf mögliche Schäden, sei es beim Menschen oder in der Umwelt wurden meist in den Wind geblasen – leider auch die Warnungen, dass die neue Technik ebenso schnell in Kriegstechnik umgewandelt werden könnte. Die beiden Weltkriege haben gezeigt, dass solche Warnungen berechtigt waren: Im Laufe kriegerischer Auseinandersetzungen erfanden die Menschen immer grausamere Techniken, um andere Menschen zu vernichten. Schon im Volksmund heißt es: "Der Krieg ist der Vater aller Dinge."
Was mit dem Untergang der Titanic eher unfreiwillig begann, wurde systematisch erst mit der modernen Raumfahrt und der Einführung der Kernenergie betrieben: die Anfertigung von so genannten Risikostudien. Das sind Studien, die schon vor der Konstruktion eines technischen Apparates oder dem Bau eines Großprojektes aufzeigen sollen, was passiert, wenn ...? Doch auch damit lassen sich nicht alle Risiken ausschalten, wie die Explosion der Challenger kurz nach ihrem Start oder der Unfall im Kernkraftwerk Tschernobyl zeigten. Heute spricht man viel von der "fehlerverzeihenden Technik". Das bedeutet, dass trotz aller Sicherheitsvorkehrungen Fehler in der Ausführung bzw. der Anwendung des technischen Apparates passieren 'dürfen', ohne dass dem Anwender oder seiner Umgebung gleich etwas geschieht.
Wir leben im technischen Zeitalter. Der beschleunigte technische Wandel hat dem Berliner Universitätsprofessor Friedrich Rapp zufolge den Charakter einer schicksalhaften Macht angenommen und ist weithin zur maßgeblichen Instanz für das ökonomische, politische und soziale Geschehen geworden. Wenn man den Futurologen glauben darf, stehen wir erst am Beginn einer vollkommen von der Technik bestimmten Zeit, die neben verheißungsvollen Möglichkeiten auch beklemmende Perspektiven bereithält. Eine Technik völlig ohne Risiko und Gefahren gibt es allerdings nicht, sei sie noch so begehrt. Man kann nur hoffen, dass der Erfindergeist und der Wille, immer Neues zu schaffen, um die Natur zu beherrschen, nur zum Wohle der Menschen und ihrer Umwelt Verwendung findet.
Autor/in: Dipl.-Ing. Joachim Hospe, 12.12.2006