Sarajevo im Bürgerkrieg
Am 1. März 1992 feuerte ein Heckenschütze auf eine Gruppe Serben, die ihre Flagge hissten; ein Mann wurde getötet, ein weiterer verletzt. Der Angriff aus dem Hinterhalt lieferte den formellen Anlass für den Ausbruch des Bürgerkriegs in der wirtschaftlich wenig entwickelten jugoslawischen Teilrepublik Bosnien-Herzegowina. Einen Tag zuvor hatte ein Referendum, das von der serbischen Bevölkerung boykottiert wurde, die Unabhängigkeit vom serbischen Rest-Jugoslawien besiegelt. Damit zerbrach die multiethnische Gesellschaft Bosnien-Herzegowinas in eine nach Kroatien orientierte Bevölkerungsgruppe, in die bosnischen Serben, die auf Anschluss an den serbisch dominierten Reststaat zielten, und in die bosnischen Muslime selbst.
Am 2. Mai schloss sich der serbische Belagerungsring um die 380 000 Einwohner zählende Hauptstadt Sarajevo. Die Stadt war für knapp vier Jahre weitgehend von der Außenwelt und über lange Phasen von jeder Grundversorgung abgeschnitten und wurde zum Faustpfand serbischer Machtinteressen. Die (Zivil-)Bevölkerung Sarajevos war einem mit terroristischer Grausamkeit geführten Krieg ausgesetzt: 4 Millionen Granaten wurden auf die Stadt abgefeuert, 234 Mal Waffenstillstandsvereinbarungen zwischen 1992 und 1995 gebrochen. Nach dem Daytoner Friedensabkommen beklagte Sarajevo 10 000 Tote und ca. 60 000 Verwundete, 155 000 Wohnungen waren zerstört, der materielle Schaden wurde auf 1,5 Milliarden Mark geschätzt.
Viele ausländische Beobachter reagierten lange Zeit mit Unglauben auf das Szenario eines solchen Krieges. Das politische Versagen des Westens angesichts des Genozids gegen die muslimisch-bosnische Bevölkerung erschütterte die Vorstellungen vieler Europäer von einer multiethnischen und multikulturellen Gesellschaft. Auch zweieinhalb Jahre nach dem Daytoner Friedensabkommen ist die Normalität nach Sarajevo nur an der Oberfläche zurückgekehrt.
Autor/in: Margarete Häßel (punctum, Bonn), 12.12.2006