Mensch am Draht
Glosse
Morgens schaltet mich mein Radiowecker an. Er schickt eine Menge von Informationen rüber, aber meine warmlaufenden Gedächtnisspeicher scannen nochmals die beendete Stand-By-Periode. Nein, keine Störung durch das schrillende Fax-Gerät aus dem Zimmer nebenan. Ausnahmsweise hat mir um drei Uhr früh niemand mehrseitige Konvolute über äußerst preisgünstige Alarmanlagen gesendet. Pflichtgemäß greife ich noch auf dem Lager nach der Fernbedienung des Fernsehapparats und bediene meine visuellen Einheiten mit einem schnellen Zap durch 33 Kabelprogramme. Die Welt ist in Ordnung. Dort auf dem Bildschirm hampeln mechanisch genau solche fröhlich animierten Kunstwesen, wie ich selbst eines bin.
Es folgen diese penetranten biologischen Verrichtungen, für die weit und breit keine Digitalisierung in Sicht ist. Die Küche tröstet wieder mit den warm leuchtenden Skalen der Kaffeemaschine, des Toasters und der Mikrowelle, in der ein perfekt geschmackloses Frühstück aufwallt – herbeigeschafft durch Dauer-Abo beim Internet-Bringdienst. Ein Augenblick heiteren Genusses. Dann wechsle ich die Kassette im Videorecorder aus, die nachts bespielt worden ist, und programmiere neu. Dazu rotieren meine Lieblingssongs im CD-Player, denn die Programmierung am ganz besonders hohen High-Tech-Gerät dauert erfahrungsgemäß ganz besonders lang. Endlich darf mein Computer auf meine Daten zugreifen. Er zeigt mir, dass der E-Mail-Briefkasten vollgestoppft ist. In den nächsten Stunden sortiere ich die eine wichtige Mitteilung aus den Mengen verführerischer Nackthaut-Offerten und hundertprozentig reich machender Kapitalvermehrungs-Angebote aus.
Nachdem ich ausgiebig mit einigen Anrufbeantwortern telefoniert habe, merke ich, dass meine Nabelschnur zur Welt schon ganz traurig vor sich hin schrumpelt, weil ich noch nicht online war. Es wird also hohe Zeit, sich wieder diesen faszinierenden Aufbauprozessen von Web-Seiten zu widmen, die Schwarzen Löcher im Server zu studieren und sich ab und zu in einen der hochintelligenten Chat-Diskurse einzuschalten. Es ist eine Lust, ein Mensch zu sein, dieser einzigartige Datensatz auf der Festplatte der Welt.
Autor/in: Herbert Heinzelmann, 11.12.2006