Hintergrund
Das brasilianische Kino
Das brasilianische Kino hat mit jährlich etwa 30 bis 40 Produktionen nicht nur seine Wiedergeburt bewiesen, sondern auch seine Marktposition dank der staatlichen Fördermaßnahmen der Cardoso Regierung über Steuererleichterungen für Investoren gefestigt, die mit den rigiden Sparmaßnahmen der Collor Regierung brachen und langsam Wirkung zeigen. Trotz der damit verbundenen Abhängigkeit von der nationalen Wirtschaftslage und der noch nicht gelösten, oft desaströsen Situation im Vertriebs- und Verleihbereich ermöglichten die Gesetze von 1991 und 1993 den Aufbau einer Infrastruktur.
Das künstlerische Potential für ein eigenständiges nationales Kino ist offenbar nicht mit dem Cinema Novo verschwunden. Eine junge Generation von Autoren und Regisseuren, die unter Collor in der Werbebranche, beim Fernsehen oder im Ausland überlebten und wertvolle Erfahrungen sammelten, bestimmt jetzt die Kinoszene. Das bestätigt sich auch in wachsender internationaler Aufmerksamkeit und Anerkennung, wie mit der Verleihung des Goldenen Bären der Berliner Filmfestspiele 1998 für Central do Brasil (1997, Walter Salles) oder der Oscar-Nominierung für O que é isso companheiro (1997, Bruno Barreto). Daß es sich dabei nicht nur um 'Kunstfilme' für den Festivalzirkus handelt, beweist der für Brasiliens Kinobetreiber überraschend hohe einheimische Publikumszuspruch 1997 mit allein über zwei Millionen Kinobesuchern bei den brasilianischen Top Ten, angeführt von Guerra de canudos (1997, Sergio Rezende). Bei den Publikumslieblingen handelt es sich um Produktionen mit einer gekonnten Mischung aus populären brasilianischen Themen mit glamouröser Ausstattung, aufwendiger Werbung und bekannten Darstellern. Aber auch "Underdogs” können es schaffen, wie Boleiros (1998, Ugo Giorgetti), eine Liebeserklärung an den brasilianischen Fußball der letzten Jahrzehnte.
Das Vorherrschen brasilianischer Themen bei den Kinoproduktionen offenbart den Trend der im Medien- und Kulturbereich neuentdeckten "Brasilidade", der Sehnsucht nach dem 'zutiefst' Brasilianischen. Die Auseinandersetzung mit "Heimat" und "Suche nach der eigenen Identität" begann mit Terra estrangeira (1995, Daniela Thomas und Walter Salles) als Portrait einer Generation, die auf der Suche nach der eigenen Zukunft zu Beginn der 90er Jahre nach Portugal auswandern mußte. Diese Suche nach der "zweiten Chance" setzte Walter Salles in Central do Brasil (1998) fort, allerdings mit einer Reise in das Innere des Landes. Aufgewachsen unter der Militärregierung Brasiliens zählt Salles (Jg. 1954) zur desillusionierten Generation angesichts der wachsenden sozialen und wirtschaftlichen Probleme, auf die das Land keine Antwort weiß. Wie viele aus der jüngeren Generation von Filmemachern steht er als Angehöriger der etablierten Gesellschaftsschicht auf der anderen Seite des Grabens zwischen Arm und Reich.
Céu de estrelas (1997, Tata Amaral) und Os matadores (1996, Beto Brant), beide in São Paulo produziert, enthüllen ein 'intimes' Brasilien und sind eine psychologische Studie über die Allgegenwart von Gewalt, die den sozialen und politischen Kontext oft in den Hintergrund treten läßt. Ein ebenso hartes Psychodrama verspricht das neue Projekt der Regisseurin Tata Amaral Através da janela über die Eskalation eines Konfliktes zwischen Mutter und Sohn zu werden. In Kenoma (1998, Eliane Caffé), einer ländlichen Kleinstadt, beginnt die Suche nach einer Lebensperspektive jenseits des modernen Lebens. Im Mittelpunkt steht der Versuch eines Kunsthandwerkers ein "perpetuum mobile" zu erfinden, eine Maschine, die sich durch permanente Bewegung selbst in Gang hält. Der wiederkehrende Schauplatz des Sertão im Nordosten, eines der ärmsten Landstriche Brasiliens, findet sich bei Crede mi (1997, Bia Lessa) und O sertão das memórias (1997, José Araújo). Beide Produktionen leben von der Verbindung zwischen Realität und Fiktion wie vom ästhetischen Interesse an der Volkskultur des Sertão. Der Räuber Lamdião, einer der populärsten Mythen der Sertão, wird sogar von mehreren Produktionen wiederentdeckt. Baile perfumado (1997, Liorio Ferreira, Paulo Caldes), und Corisco e dadá (1996, Rosemberg Cariry) stellen nicht mehr den Outlaw des 19. Jahrhunderts, sondern die Privatperson in den Vordergrund. Die Auseinandersetzung mit Opposition und politischer Verfolgung unter der Militärregierung führt die aktuellste Produktion von Beto Brant Acão entre amigos (1998). Vier Männer, die Widerstand leisteten und Folter erlitten, treffen nach über zwanzig Jahren ihren Folterer wieder. Eine eher persönliche Rückschau der 90er auf die 70er Jahre leistet Dois córregos (1998, Carlos Reichenbach). Auf weitere unbekannte oder vergessene Kapitel der brasilianischen Geschichte setzen geplante Produktionen über die Biografien legendärer Persönlichkeiten der Gesellschaft, wie Lara (Projekt über die bekannte Schauspielerin Odeta Lara, von Ana Maria Magales) oder Mauá – Der Kaiser und der König (Projekt über Brasiliens bedeutenden Industriekapitän des 18. Jahrhunderts, von Sergio Rezende). Welche der groß angelegten oder kleineren unabhängigen Projekte wirklich realisiert werden, ist aufgrund der neu einsetzenden wirtschaftlichen Rezension noch nicht absehbar.
Erfolge brauchen ihre Kritiker, so auch das neue brasilianische Kino mit seinem Nebeneinander von Inhalten und ästhetischen Stilen. Gezeigt hat sich in der Diskussion, die noch stark vom Vergleich mit dem Cinema Novo und Cinema Marginal lebt, daß althergebrachte Konzepte mit ihren Dichotomien (Kino/Fernsehen; brasilianisch/ausländisch; Individualität/Politik; Massenkultur/künstlerische Ästhetik) nicht mehr greifen. Das Interessante und Lebendige am aktuellen brasilianischen Kino zeigt sich in seiner individuell und subjektiv bestimmten Auseinandersetzung mit der brasilianische Realität. Die neue Generation der Filmschaffenden beobachtet und entdeckt die Realität, anstatt sie zu erklären und ästhetisch zu 'übersetzen'. Dabei wird keine gemeinsame politische und ästhetische Konzeption angestrebt, statt dessen eine integrative Auseinandersetzung mit den Einflüssen von Massenmedien, populären Musikrichtungen und internationalem (Hollywood-) Kino.
Autor/in: Paulo de Carvalho/Annette Eberle, 11.12.2006