Verrückt - Der Film Durchgeknallt und die Realität
Das ist ja wahnsinnig, das ist irre, toll, verrückt ... Solche Worte benutzen wir, um ein besonders schönes Erlebnis zu beschreiben. Doch wenn jemand wirklich durchdreht, dann ist das immer noch ein Tabu. Wer sein Leben phasenweise nicht im Griff hat, sich "auffällig" benimmt, wird ausgegrenzt und weggesperrt.
Das gilt heute wie in den 60er Jahren, der Zeit, in der Durchgeknallt spielt. Dabei kann es jedem von uns passieren. Das ist sicher die wichtigste Botschaft des Films. Kein Mensch kann für sich ausschließen, nie in seinem Leben in eine psychische Krise zu geraten, aus der er ohne fremde Hilfe nicht mehr herausfindet. Doch gerade bei Kindern und Jugendlichen werden zum Beispiel Depressionen häufig nicht oder zu spät erkannt, weil sie sich hinter Aggressivität, Lustlosigkeit und/oder einer stark abweisenden Haltung verbergen. Allein in Deutschland unternehmen jedes Jahr rund 15000 Jugendliche einen Selbstmordversuch. Nach dem Verkehrsunfall ist Suizid die zweithäufigste Todesursache für Jugendliche im Alter zwischen 15 und 19 Jahren.
Neben Drepressionen können es auch eine Psychose, Schizophrenie oder Manie sein, in die ein Mensch abtaucht, der sich in der realen Welt nicht mehr zurechtfindet, der sich von den Erwartungen erdrückt oder in Sprachlosigkeit verloren fühlt. Über die Auslöser dieser Erkrankungen weiß man heute nicht viel mehr als in den 60er Jahren. Dementsprechend hilflos sind die Behandlungsmethoden: ".... müssen wir in der Praxis das tun, was wir seit zwei Jahrhunderten in der Psychiatrie tun, nämlich Krankheiten, die wir nicht verstanden haben, mit Medikamenten und Methoden behandeln, die wir ebenfalls nicht verstanden haben". So lautet das Fazit eines Arztes, der seit über 20 Jahren in der Psychiatrie arbeitet. Insofern ist das Ende von Durchgeknallt ein Hollywood-Ende – zu schön, um war zu sein. In der Realität wird kaum jemals ein Psychiatrie-Patient als "geheilt" entlassen. Für die meisten ist es ein ständiges Auf und Ab zwischen krank und gesund, Klinik und den eigenen vier Wänden. Manche von ihnen haben mehr Angst vor dem Klinikaufenthalt als vor der Krise an sich. Denn in den psychiatrischen Großkliniken, die auch heute noch die gängige Einrichtung sind, ist das Ruhigstellen mit Medikamenten die Lösung der Wahl. Auch an das Bett fixiert zu werden, wie Lisa im Film, ist weiterhin üblich.
Psychiatrische Kliniken sind auch heute, trotz mancher Reformen, Verwahranstalten. Meist nur träumen können psychisch kranke Menschen davon, auf Wunsch drei Einzelgespräche pro Woche bei einem Psychologen zu bekommen (wie Susanna). Zwar gab es Ende der 70er Jahre in der Bundesrepublik eine breite öffentliche Diskussion über eine Psychiatrie-Reform, doch in der Praxis hat sich bis heute nur wenig verändert. Lediglich in Bezug auf ambulante Therapien vollzog sich wirklich ein Bewusstseinswandel. Hier hat der Psychoboom einen ganz neuen Markt entstehen lassen. Aber die geschlossenen Abteilungen psychiatrischer Kliniken wurden keineswegs abgeschafft. Menschen in psychischen Krisen werden zwangsweise eingesperrt, weil sie eine "Gefahr für sich selbst oder andere" darstellen können. Heute muss ein Richter den oder die Betroffene anhören, ein Arzt allein kann über die Zwangsmaßnahme nicht entscheiden. Im Gegensatz zu Susanna Kaysen im Film kann in Deutschland also niemand, der sich freiwillig in stationäre Behandlung begibt, ohne richterlichen Beschluss gegen seinen Willen festgehalten werden. Aber worauf wird sich der nicht fachkundige Richter in seinem Urteil wohl eher verlassen? Auf den behandelnden Arzt oder auf den Patienten als Experten in eigener Sache?
Entgegen dem öffentlichen Vorurteil sind viele psychisch kranke Menschen nicht ausschließlich verrückt. Die meisten haben Krisen-Zeiten und gesunde Zeiten, die einander abwechseln. Von Krise zu Krise können Jahre vergehen, in denen sie nichts von einem "Normalo" unterscheidet. Und auch in der Krise sind sie durchaus empfindsam dafür, wie man mit ihnen umgeht. Manche Betroffenen erleben ihre Zusammenbrüche auch sehr bewusst und betrachten sie als Teil ihres Lebens, der nicht verdrängt, sondern auch gelebt werden muss. Die Erkenntnis, dass auch psychische Krisen ein wichtiger Teil des Lebens sein können, scheint aber nicht in unsere so überaus rationale Leistungsgesellschaft zu passen. Auch eine Krise ohne Medikamente und abgeschlossene Türen zu erleben, bleibt für die meisten psychisch Kranken ein Wunschtraum, den Eltern, Freunde, Polizei und Ärzte schnell beenden. Menschlichkeit im Sinne von Würde, Respekt, Ernstgenommen-Sein, Wertschätzung, Achtung und Teilnahme ist immer noch eine Forderung, die in den Selbsthilfe-Gruppen der Psychiatrie-Erfahrenen ganz oben steht. Das Verständnis, das Schwester Valerie im Film ihren Patientinnen entgegenbringt, ist – nicht zuletzt wegen der Arbeitsbedingungen von Kranken- und Pflegepersonal – nur selten anzutreffen.
Autor/in: Susanne Petz, 08.12.2006