Seit einem schweren Motorradunfall, bei dem sein Vater ums Leben kam, ist der passionierte junge Bergsteiger Mark an den Rollstuhl gefesselt. In einem Hamburger Heim für geistig Behinderte 'geparkt', hält ihn nur der Traum am Leben, einmal den schneebedeckten Gipfel des Gran Paradiso zu besteigen. Als auch eine neue medizinische Diagnose die Genesung ausschließt, will er sich in den Tod stürzen. In letzter Minute kann ihn die engagierte Physiotherapeutin Lisa davon abhalten, indem sie ihm die Erfüllung seines Traums verspricht. Sie überredet schließlich ihren Studienfreund Martin, der als Sozialarbeiter in einem Jugendgefängnis arbeitet, zu dem außergewöhnlichen Projekt: Drei jugendliche Straftäter auf Freigang sollen zusammen mit einigen geistig Behinderten Mark auf den Viertausender tragen. Der schwierige Aufstieg führt alle Beteiligten schnell an die Grenze ihrer körperlichen und geistigen Belastbarkeit.
Von wegen Sozialdrama
Auf den ersten Blick scheint es, der 32-jährige Regisseur Miguel Alexandre habe es auf ein Mitleid heischendes Behindertenmelodram abgesehen. Doch sein Kinodebüt erweist sich dank eines klug konstruierten Drehbuchs und einer ausgezeichneten Besetzung, aus dem Ken Duken, Gregor Törzs und Regula Grauwiller herausragen, als packendes Außenseiterdrama und als großes Kino der Gefühle.
Aus Gegnern werden Partner
Zu den Stärken des Films zählt die detaillierte Charakterisierung der Figuren und sozialen Gruppen. Sparsame Rückblicke in die Vergangenheit markieren zum Beispiel Schwachpunkte der Häftlinge und das nassforsche Gebaren des zynischen Neonazis Edwin entpuppt sich hier rasch als bloße Fassade eines unsicheren Jünglings. Aber auch der willensstarke Mark verfällt mitunter in Selbstmitleid oder wird in seiner Verbitterung jähzornig gegen hilfsbereite Mitmenschen. Weder die Behinderten noch die 'Knackis' schenken sich anfangs etwas, obwohl beide Gruppen unter Vorurteilen zu leiden haben. Auch innerhalb der Gruppen treten Spannungen auf. Je größer die Hindernisse, um so deutlicher erkennen die Gipfelstürmer jedoch, dass sie ihre gegenseitigen Ressentiments überwinden müssen, wenn sie das hoch gesteckte Ziel erreichen wollen.
Zu Außenseitern gemacht
Für Komplikationen sorgen nicht nur Naturgewalten, sondern auch böswillige Zeitgenossen. Wegen Marks Behinderung wollen zwei arrogante Bergsteiger die Gruppe in eine marode Hütte verfrachten. Als Mark anbietet, alleine dort zu schlafen, damit wenigstens seine Begleiter ein ordentliches Dach über dem Kopf haben, setzt der Häftling Wolf ein Signal der Solidarität: alle oder keiner. Kurz vor dem Ziel sabotieren die beiden Fieslinge sogar den Aufstieg der Jugendlichen, indem sie eine Behelfsbrücke über eine Gletscherspalte zerstören.
Entscheidungsfreiräume
Wolf und Mark, Gegenspieler auch um die Gunst von Lisa, liefern sich zunächst nur heftige Wortgefechte. Doch als es hart auf hart kommt, revanchiert sich Mark für Wolfs Einsatz mit einer großartigen Geste: Er ist bereit, auf die letzte Etappe zum Gipfel zu verzichten, damit Wolf sich in die ersehnte Freiheit absetzen kann, nachdem er sich durch eine Prügelei die vorzeitige Haftentlassung verscherzt hat. Diese Entscheidung wirkt um so bewegender, als sie Marks eigene Motivation betrifft, über die Besteigung seinem Vater nahe zu sein, mit dem er seinen Traum vom Gipfel geteilt hat. Und Lisa stellt sich am Schluss gegen Martin, der nach Wolfs Wortbruch die Exkursion für gescheitert erklärt und an der Möglichkeit seiner Resozialisierung zu zweifeln scheint.
Große Bilder – große Gefühle
In der Inszenierung zeigt der gebürtige Portugiese Alexandre erstaunlichen Mut zu großen Bildern und Gefühlen: Imposante Landschaftsaufnahmen, die teilweise unter schwierigen Bedingungen auf fast 4000 Meter Höhe entstanden, entsprechen den existenziellen Konflikten der Protagonisten auf der visuellen Ebene. Auch wenn der emotionale Bogen gelegentlich sehr strapaziert wird, etwa wenn Lisa nur durch eine unglaubwürdige Heldentat Marks nicht in die Tiefe stürzt, gelingt es dem Regisseur insgesamt, ein Abdriften in den Kitsch zu vermeiden. Wesentlichen Anteil daran haben die lebensnahen und humorvollen Dialoge und der Off-Kommentar Marks, der den Gipfelsturm in der Diktion von
Raumschiff Enterprise mit eine Prise Ironie würzt. Nicht zuletzt die durchweg überzeugenden Leistungen des Darstellerensembles, das beträchtliche Strapazen auf sich nahm, machen
Gran Paradiso zu einem mitreißenden Kinostück, das auch dem Vergleich mit Hollywood-Reißern locker standhält.
Autor/in: Reinhard Kleber, 01.11.2000